Dune 01: Der Wüstenplanet
eintretenden Stille verbeugte Stilgar sich vor ihr. »Sayyadina«, sagte er. »Falls der Shai-Hulud nichts dagegen einwendet, könntest du eine Ehrwürdige Mutter werden.«
Es hat geklappt, dachte sie, auch wenn mir der Weg nicht gefällt, den ich gehen mußte. Aber er hat seinen Zweck erfüllt. Sie fühlte eine zynische Bitterkeit in sich, als sie darüber nachdachte, was sie getan hatte. Unsere Missionaria Protectiva versagt selten. Auch hier hat sie hervorragende Vorbereitungsarbeit geleistet. Inmitten dieser Wildnis existiert ein Zufluchtsort für uns. Jetzt ... muß ich hier die Rolle der Auliya spielen, der Vertrauten Gottes. Die Sayyadina der Wüstenbewohner, die von den Prophezeiungen der Bene Gesserit so sehr beeinflußt sind, daß sie ihre Hohepriesterin ›Ehrwürdige Mutter‹ nennen.
Paul stand neben Chani in den Schatten der inneren Höhle. Er hatte immer noch den Geschmack der Nahrung auf der Zunge, die sie ihm gegeben hatte. Vogelfleisch mit Gewürzhonig. Während des Essens war ihm aufgefallen, daß er noch nie zuvor eine solch starke Konzentration von Melange auf einmal im Mund gehabt hatte. Beinahe hatte er so etwas wie leise Furcht verspürt, denn er wußte, was das Gewürz mit ihm anstellen konnte, wenn er nicht aufpaßte. Allzu starker Genuß der Droge konnte dazu führen, daß sich sein Bewußtsein primär auf die vor ihm liegenden Kreuzwege der Zeit konzentrierte.
»Bi-lal kaifa«, flüsterte Chani.
Paul schaute sie an und registrierte die Aufmerksamkeit, mit der die Fremen den Worten seiner Mutter lauschten. Nur der Mann mit dem Namen Jamis hatte sich etwas abgesondert. Er schien von Jessica nicht sonderlich beeindruckt zu sein, denn er hielt die Arme vor der Brust verschränkt und lächelte spöttisch.
»Duy yakha hin mange«, flüsterte Chani. »Duy punra hin mange. Ich habe zwei Augen. Ich habe zwei Füße.«
Sie starrte Paul an wie ein Weltwunder.
Paul tat einen tiefen Atemzug und versuchte den in ihm brodelnden Vulkan unter Kontrolle zu halten. Die Worte seiner Mutter hatten dazu geführt, daß die Essenz der Melange in ihm nicht zum Wirken kam, und er hatte gefühlt, wie ihre Stimme auf und nieder gegangen war, wie die Schatten über einem offenen Feuer. Dennoch hatte er deutlich den Zynismus gespürt, der in ihrer Stimme gelegen hatte – wie gut er sie doch kannte! –, aber er war nicht in der Lage gewesen, den in seinem Innern aufwallenden Ärger, der mit zwei Bissen Fleisch seinen Anfang genommen hatte, an seinem Ansteigen zu hindern.
Das schreckliche Ziel!
Er fühlte deutlich, daß er seinem weiterarbeitenden Bewußtsein nicht entfliehen konnte. In seinem Geist herrschte ungeheure Klarheit, Daten flossen auf ihn ein, mit eiskalter Präzision. Er rutschte an der Höhlenwand herab, lehnte sich sitzend mit dem Rücken gegen den Fels und ließ sich einfach treiben. Wachsam folgte er den unterschiedlichen Zeitströmen, spähte in kleine Seitenpfade und witterte die Winde der Zukunft ... und auch die der Vergangenheit. Es war, als sähe er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit nur einem einzigen Auge, als sei alles miteinander verbunden, als hänge das eine vom anderen ab.
Es existierte eine Gefahr, das spürte er mit aller Deutlichkeit. Und sie ging von der Gegenwart aus. Während er nach ihr tastete, fühlte er zum erstenmal die massive Beständigkeit des Zeitflusses, wie er drängte und zerrte, wie er sich wellenförmig dahinbewegte und mit Seiten- und Gegenströmungen rang. Wie Brecher aus einem wildbewegten Ozean, der gegen eine Felsenküste brandete und sich in den Klippen verlor. Er verstand nun einiges mehr von seiner Fähigkeit und sah jetzt auch den Ursprung undurchdringlicher Zeitphasen, die Fehlerquellen, die sich in ihnen verbargen, und das erfüllte ihn mit Angst.
Das Hellsehen, stellte er fest, war eine Erleuchtung, die die Grenzen ihrer Enthüllungen selbst setzte. Sie war gleichzeitig eine Quelle der Genauigkeit und verständlicher Fehler. Und dazwischen eine Art Heisenbergscher Unbestimmtheit: der Energieverbrauch, den er aufwandte, um etwas zu sehen, veränderte das Gesehene.
Und was er sah, war der Zeitzusammenhang innerhalb dieser Grotte, eine Reihe von Möglichkeiten, die bereits von einem Augenzwinkern oder einem von einem Fuß achtlos beiseitegeschobenen Sandkorn verändert werden konnte. Er sah Gewalt in so vielen Varianten, daß die kleinste Bewegung bereits genügte, um ihre Muster auszuweiten und ins Unendliche abgleiten zu lassen.
Die Vision
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