Dunkel ist die Sonne
sich nicht völlig sicher, ob der Vorgang auf diese Weise ablief. Es schien jedoch eine plausible Erklärung zu sein.
Als er in einer Ecke in der Nähe des Fensters ein halb gefressenes Nagetier erblickte, wußte er, warum nicht auch Aejip von dem Duft überwältigt worden war. Irgendwann während der Ruhezeit, bevor die Pflanze damit begonnen hatte, ihren Duft auszusenden, war die Katze hungrig geworden. Sie war auf die Jagd gegangen und mit dem restlichen Kadaver zurückgekehrt, um ihn in aller Ruhe zu verzehren. Sie war genau in dem Moment angekommen, als die Insekten mit der Nahrungsaufnahme begannen.
Deyv strich der Katze über den Kopf. „Gutes Mädchen. Du hast uns gerettet.“
Jum fühlte sich wegen seiner Stiche noch viel zu elend, um vor Eifersucht zu knurren.
Länger zu bleiben hatte keinen Sinn, selbst dann nicht, wenn alle Symbionten der Pflanze tot waren. An Schlaf würde nicht zu denken sein. Er hob seine Waffen auf und befahl den Tieren, aus dem Fenster zu springen. Die Katze nahm das Nagetier zwischen die Zähne und gehorchte. Jum aber verhielt sich sonderbar. Er trottete zu Deyv hin und sah winselnd zu ihm auf.
„Was ist, alter Junge?“
Jum hielt seine Augen fest auf einen bestimmten Punkt an Deyvs Körper gerichtet.
Deyv sah an sich herunter. Kam etwa das Blut durch den Schlamm, mit dem er seine Brust bepflastert hatte? Auf einmal wußte er, warum der Hund so verstört war.
Sein Seelenei war verschwunden!
6
Später kam Deyv zu dem Schluß, daß der Dieb hereingekommen sein mußte, während er und der Hund in dem betäubungsähnlichen Schlaf gelegen hatten und bevor die Katze zurückgekehrt war. Jum hatte den Dieb nicht gewittert, weil das Parfüm so überwältigend geduftet hatte. Zu der Tat hatte es vorzüglicher zeitlicher Kalkulation und einer gehörigen Portion Dreistigkeit bedurft, aber sie war geschehen.
Für den Augenblick war Deyv zu bedrückt, um den Tatverlauf zu rekonstruieren. Auch machte er sich noch keinerlei Gedanken darüber, warum man ihm eigentlich das Seelenei gestohlen hatte.
Seit er ein kleines Kind gewesen war, hatte er das Ei nur wenige Male abgenommen, nämlich dann, wenn eine neue Schnur durch das geschnitzte Loch an dem einen Ende gezogen werden sollte. Niemand ließ sein Ei jemals freiwillig aus den Augen. Selbst bei der Beerdigung lag das Ei auf der Brust des Toten.
Das Ei zu verlieren bedeutete, seine Seele zu verlieren.
Deyv wäre ein wandelnder Geist, wenn er sein Seelenei nicht irgendwie wiederbekäme. Sein eigener Stamm würde ihn in den Dschungel zurückjagen, wenn er ohne sein Ei auftauchte. Er wäre dazu verurteilt, allein, von allen gemieden, sei es nun Freund oder Feind, herumzuziehen, und das bis zu seinem Tode. Sein Feind würde sich nicht einmal damit brüsten, Deyv getötet zu haben, und er würde seinen Kopf nicht als Trophäe aufhängen, denn der Kopf eines Mannes ohne Seele war wertlos. Wer ihn tötete, würde seinen Körper vergraben, damit Deyvs Geist ihn nicht verfolgen könnte.
Deyv hatte manche schreckliche Geschichte über Leute erzählen hören, deren Eier von Stammesgenossen oder von Frauen, die sie haßten, gestohlen worden waren. Dies kam nicht sehr oft vor, und nur übergroßer Haß konnte einen Menschen zu einer solchen Tat bringen. War der Übeltäter oder die Übeltäterin entdeckt, so starb er oder sie einen furchtbaren Tod und wurde ohne Ei begraben. In den Geschichten verließen diejenigen, denen das Ei gestohlen worden war, das Haus. Und sie saßen im Dschungel und grämten sich innerhalb weniger Ruhezeiten zu Tode.
Betäubt kauerte Deyv in einem Winkel des Raumes und stöhnte vor sich hin. Jum winselte und liebkoste ihn mit seiner Schnauze. Aejip war, nachdem sie das Nagetier gefressen hatte, in den Raum zurückgekehrt, und auch sie war verwirrt und niedergeschlagen.
Lange, lange Zeit saß Deyv mit starr vor sich hinblickenden Augen und ohne die Tiere zu beachten da. Tiefer und tiefer versank er in ein Gefühl der Lähmung. Alles war auf ewig verloren. Nie würde er seine Eltern, Brüder, Schwestern oder Freunde wiedersehen. Nie würde er das Glück kennenlernen, Frau oder Kinder zu haben. Sein Zustand war der eines lebendigen Toten, und wenn einst der wahre Tod kam, würde es ihm nicht besser ergehen. Für immer würde er als Geist über die Erde wandeln, und jener herrliche Ort, den die Große Mutter denen mit den Eiern vorbehalten hatte, würde ihm verschlossen sein. Jener Ort, an dem es nie zu heiß oder
Weitere Kostenlose Bücher