Dunkle Gewaesser
Onkel Gene ignorierten ihn einfach. Als hätte er gar nichts gesagt.
»Keine schlechte Idee«, sinnierte Daddy. »Wir schmeißen sie wieder rein. Viel getaugt hat sie eh nicht. Und das stimmt schon. Sie hat keine richtige Familie mehr, seit ihre Mutter und ihr Bruder tot sind, und ihr Daddy hängt sowieso nur an der Flasche. Schadet nichts, wenn wir sie einfach wieder versenken. Teufel auch – er hat sie nicht vermisst, als sie noch am Leben war, und jetzt, wo sie tot ist, wird er sie genauso wenig vermissen.«
»Ihr werft sie nicht wieder rein«, sagte ich.
Daddy horchte auf. Er drehte sich um und sah mich an. »Mit wem redest du in so einem Tonfall, Mädchen? Doch nicht etwa mit Leuten, die älter sind als du?«
Ich wusste, dass ich mir damit wahrscheinlich eine Tracht Prügel einhandelte, aber ich gab nicht nach. »Ihr werft sie nicht wieder rein.«
»Sie war unsere Freundin«, sagte Terry, dem Tränen in den Augen standen.
Daddy streckte den Arm aus und schlug mir mit der Handfläche auf den Kopf. Es tat weh. Außerdem wurde mir ein wenig schwindlig.
»Ich sag hier, wo’s langgeht«, zischte er und beugte sich zu mir herab. Sein Atem roch nach Tabak und Zwiebeln.
»Sie haben keinen Grund, sie zu schlagen«, sagte Terry.
Daddy starrte ihn wütend an. »Vergiss du bloß nicht, wo du hingehörst.«
»Sie sind nicht mein Vater.« Terry wich einen Schritt zurück. »Wenn Sie May Lynn wieder ins Wasser werfen, verpetze ich Sie.«
Daddy sah Terry eine Weile an. Wahrscheinlich fragte er sich, ob er schnell genug war, ihn zu erwischen. Aber offenbar war ihm das zu anstrengend, denn er entspannte sich wieder. Daddy Don Wilson verschwendete keine Energie, wenn es nicht unbedingt sein musste, und manchmal selbst dann nicht.
Er verzog nur die schrumpeligen Lippen ein wenig und sagte: »War doch nur Spaß. Wir wollten sie doch gar nicht wieder reinschmeißen. Hab ich recht, Gene?«
Onkel Gene betrachtete erst Terry, dann mich.
»Bestimmt nicht«, sagte er, aber für mich klangen die Worte, als wären sie so lange auf kleiner Flamme geröstet worden, dass sie schon ganz schwarz waren.
Daddy schickte Terry los, um den Constable zu holen, aber nicht mit dem Pick-up. Terry musste laufen. Dabei wäre es keine große Sache gewesen, die Leiche auf die Ladefläche zu legen und uns alle in den Ort zu fahren, aber das wäre zu einfach gewesen, und so war Daddy nicht gestrickt. Außerdem mochte er Terry nicht, weil er seiner Meinung nach nicht so war, wie ein Mann sein sollte. Onkel Gene hatte ebenfalls einen Pritschenwagen, aber auch erbot nicht an, ihn Terry zu leihen. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass ein totes Mädchen damit transportiert wurde.
Ich setzte mich ans Ufer und betrachtete May Lynns Leiche. Fliegen krabbelten darauf herum, und sie fing an zu stinken. Ich musste dran denken, wie sauber und hübsch sie immer gewesen war – so was hätte ihr einfach nicht zustoßen dürfen! Es war nicht wie in den Büchern, die ich gelesen hatte, oder wie in den Filmen, wenn jemand starb. Da sahen die Leute immer aus, als würden sie schlafen. Jetzt wurde mir klar, dass das Quatsch war. Ein toter Mensch war nicht anders als ein totgeschossenes Eichhörnchen oder ein Schwein, das mit durchgeschnittener Kehle über dem Siedetopf hängt.
Schatten kamen durch die Bäume und über das Wasser gekrochen, und auf dem Fluss spiegelte sich der Mond; er sah aus wie ein riesenhaftes Gesicht, das vom Grund aufstieg. Die Grillen hatten jetzt ernsthaft angefangen, an ihren Beinen zu sägen, und mit Einbruch der Nacht machten sich auch die Frösche bemerkbar. Hätte ich nicht die meiste Zeit eine Leiche angestarrt, wäre es sogar ganz hübsch gewesen. So fühlte ich mich jedoch völlig gefühllos, wie ein Arm, auf dem man geschlafen hat, nur eben am ganzen Körper.
Während wir auf Terry und die Polizei warteten, machte Daddy ein Stück weit weg von der Leiche ein Feuer und setzte sich davor, und Onkel Gene sammelte die Fische ein und trug sie zu seinem Wagen. Die Hälfte würde er bei uns abliefern und den Rest nach Hause mitnehmen. Daddy und er hatten sich ordentlich die Kante gegeben, bevor er losfuhr, und vermutlich ließ er, wenn er den Wagen in der Dunkelheit nicht um einen Baum wickelte, seine Frau Evy die Fische putzen und verprügelte sie dann. Onkel Gene behauptete, er würde sie, wenn er die Zeit dazu fand, am liebsten einmal am Tag verhauen, und wenn nicht, dann wenigstens einmal die Woche, damit sie nicht vergaß, wer
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