Dunkle Herzen
Sitz bequem, verstaute ihre Tasche neben sich und faltete die Hände im Schoß, um einen letzten Blick auf Maryland zu werfen.
Sie würde nie hierher zurückkehren. Eines Tages würde sie vielleicht jemanden schicken, aber sie selbst würde nicht mehr zurückkommen.
Dennoch seufzte sie wehmütig. Es war ihr nicht leichtgefallen, sich von ihrem Haus zu trennen. Der größte Teil ihrer hübschen Sachen würde ihr nachgeschickt werden, aber es würde trotzdem nie wieder so sein wie früher. Nicht ohne James.
Er war ihr ein perfekter Gefährte gewesen. So begierig, so leicht zu formen, so sehr darauf bedacht, daß seine Macht nicht in Frage gestellt wurde. Min lächelte in sich hinein, als sie einen Fächer aus der Tasche nahm, um ihr erhitztes Fleisch zu kühlen. Ihr hatte es nichts ausgemacht, die Frau hinter dem Mann zu spielen. Wie außerordentlich befriedigend es doch gewesen war, sie alle insgeheim zu beherrschen, ohne daß einer von ihnen – noch nicht einmal James – erkannte, wer in Wahrheit das Sagen hatte.
Anfangs, ehe sie begonnen hatte, ihn einzuweisen und in die richtige Richtung zu lenken, war er nichts weiter gewesen als ein Dilettant. Ein unzufriedener, aber wißbegieriger Mann, der keine klare Vorstellung davon hatte, wie er diese Unzufriedenheit und diesen Wissensdurst nutzen konnte.
Sie hatte es gewußt. Eine Frau wußte Bescheid. Und Männer waren letztendlich nichts anderes als Marionetten, die mittels Sex, Blut und der Aussicht auf Macht dorthin gelenkt wurden, wo eine Frau sie haben wollte.
Ein Jammer, daß er am Ende so anmaßend und unvorsichtig geworden war. Seufzend fächelte sich Min etwas schneller Luft zu. Vermutlich trug sie selbst einen Großteil der Schuld daran, weil sie ihn nicht aufgehalten hatte. Aber
es war so ungeheuer erregend gewesen, ihn zu beobachten, wie er mehr und mehr außer Kontrolle geriet, wie er alles riskierte, um noch mehr zu bekommen. Fast ebenso erregend wie jene unvergeßliche Nacht vor so vielen Jahren, als sie ihn in ihre dunklen Geheimnisse eingeweiht und mit Seinen Lehren vertraut gemacht hatte. Sie, die Stellvertreterin des Gebieters auf Erden, und James, ihr Diener.
Natürlich war sie es gewesen, die alles ins Rollen gebracht hatte. Sie war es gewesen, die sich über alle Grenzen hinweggesetzt und mit beiden Händen nach jenen dunklen Verheißungen gegriffen hatte. Sie war es auch gewesen, die das erste Menschenopfer gefordert hatte, um dann aus dem Schatten der Bäume heraus voll bebenden Entzückens zu beobachten, wie Blut vergossen wurde.
Und sie hatte als erste die ungeheure Macht dieser Opfer erkannt und mehr verlangt.
Der Gebieter hatte ihr ihren innigsten Wunsch – Wunsch nach Kindern – nie erfüllt, doch Er hatte sie dafür entschädigt, indem Er sie die Gier, die köstlichste aller Todsünden, gelehrt hatte.
Für sie würde es andere Städte geben, dachte sie, als das Signal zur Abfahrt ertönte. Andere Männer. Andere Opfer. Huren mit fruchtbaren Schößen. O ja, es würde weitergehen.
Und wer würde wohl sie, die arme Witwe Atherton, verdächtigen, wenn wieder Frauen verschwanden?
Diesmal würde sie vielleicht einen Jungen auswählen; einen zornigen, unglücklichen Jungen wie Ernie Butts – der sich als solche Enttäuschung erwiesen hatte. Nein, sie würde nicht nach einem zweiten James Ausschau halten, sondern nach einem Jungen, den sie bemuttern und lenken konnte, dachte sie voller Behagen. Sie würde ihn lehren, sowohl sie als auch den Herrn der Finsternis zu verehren.
Als der Zug ruckelnd den Bahnhof verließ, glitt ihre Hand unter ihr Mieder, und ihre Finger schlossen sich um das Pentagramm.
»O mein Gebieter«, murmelte sie. »Wir beginnen noch einmal von neuem.«
Titel der Originalausgabe
DIVINE EVIL
Redaktion: Werner Bauer
15. Auflage
Copyright © 1992 by Nora Roberts
Copyright © 1997 der deutschen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Published by arrangement with author
Umschlagillustration: photonia/Björn Keller, Hamburg
Umschlaggestaltung: Martina Eisele, München
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
eISBN 978-3-641-11166-3
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