Dunkle Herzen
eine Quelle ständigen Ärgernisses, daß Clare sich mit Junkfood vollstopfen konnte, wann immer sie wollte – und das kam häufig vor –, ohne daß ihrer gertenschlanken Figur etwas anzumerken war.
Heutzutage war Clare zwar nicht mehr so klapperdürr wie in ihrer Kinderzeit, aber immer noch so schmal, daß sie nicht – wie Angie – jeden Morgen einen besorgten Blick auf die Waage werfen mußte. Angie sah zu, wie Clare in ihrer Latzhose und der Lederschürze darüber dastand und Kalorien in sich hineinschaufelte. Wahrscheinlich trug sie unter der Hose mal wieder nichts als nackte Haut.
Clare hatte keinerlei Make-up aufgelegt. Ihre Haut war mit zartgoldenen Sommersprossen übersät, die dunkelgolden schimmernden Augen wirkten riesig in dem dreieckigen Gesichtchen mit dem weichen, großzügigen Mund und der kleinen, geraden Nase. Trotz des zerzausten, feurigen Haarschopfes, der gerade lang genug war, um zu einem stoppeligen Pferdeschwanz zusammengefaßt zu werden, und ihrer ungewöhnlichen Größe umgab Clare eine Aura von Zerbrechlichkeit, die in Angie, die mit ihren zweiunddreißig Jahren nur zwei Jahre älter als sie war, Muttergefühle weckte.
»Mädchen, wann lernst du endlich, dich hinzusetzen und in Ruhe zu essen? Und zwar eine ordentliche Mahlzeit.«
Grinsend tauchte Clare den Löffel in das Eis. »Da du dir wieder Sorgen um mich machst, nehme ich an, daß du mir verziehen hast.« Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und stützte einen stiefelbekleideten Fuß auf den unteren Holm. »Das mit der Verabredung tut mir wirklich leid.«
»Das tut es dir hinterher immer. Schon mal daran gedacht, dir Notizen zu machen?«
»Ich schreib’s mir ja meistens auf. Bloß dann vergesse ich, wo ich die Zettel hingetan habe.«
Mit dem tropfenden Löffel deutete sie auf die Unordnung in dem riesigen Raum. Das Sofa, auf dem Angie saß, gehörte zu den wenigen Möbelstücken darin. Dazu besaß sie noch einen Tisch, der unter Bergen von Zeitungen und leeren Limonadenflaschen beinahe verschwand, und einen weiteren Stuhl, der achtlos in eine Ecke geschoben worden war, wo er als Sockel für eine schwarze Marmorbüste diente. Die Wände waren mit Bildern übersät, und Skulpturen in verschiedenen Stadien der Fertigstellung vereinnahmten jedes freie Fleckchen. Eine schmiedeeiserne Treppe führte zu dem ehemaligen Speicher, den Clare zum Schlafzimmer umgewandelt hatte. Doch der Rest der ungeheuren Wohnfläche des Lofts, in dem sie seit fünf Jahren lebte, gehörte ihrer Kunst.
Während ihrer ersten achtzehn Lebensjahre hatte sich Clare stets bemüht, den hohen Ansprüchen ihrer Mutter hinsichtlich Ordnung und Sauberkeit gerecht zu werden. Doch nachdem sie nur drei Wochen auf eigenen Füßen gestanden hatte, war sie bereits zu der Erkenntnis gelangt, daß das Chaos ihre natürliche Lebensform war.
Sie grinste Angie verschmitzt an. »Wie soll ich denn in diesem Durcheinander etwas wiederfinden?«
»Manchmal wundere ich mich, daß du überhaupt daran denkst, morgens aufzustehen.«
»Du machst dir ja nur Sorgen wegen der Ausstellung.« Clare stellte die halb geleerte Schüssel auf dem Boden ab,
wo, wie Angie vermutete, das Eis still vor sich hinschmelzen würde. Clare griff nach ihrer Zigarettenpackung und fand wie durch ein Wunder auch noch Streichhölzer. »Sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Entweder kommen meine Arbeiten gut an oder fallen durch.«
»Wie wahr. Und warum siehst du dann so aus, als hättest du höchstens vier Stunden Schlaf abgekriegt?«
»Fünf«, berichtigte Clare, doch sie mochte nicht auf den Traum zu sprechen kommen. »Ich bin zugegebenermaßen ein bißchen unruhig, aber nicht besorgt. Du und dein Göttergatte, ihr sorgt euch schon für mich mit.«
»Jean-Paul ist nur noch ein Wrack«, gab Angie zu. Seit zwei Jahren war sie nun schon mit dem Galeriebesitzer verheiratet und von seinem Verstand, seiner Leidenschaft für Kunst und seinem herrlichen Körper noch immer so bezaubert wie am ersten Tag. »Schließlich ist es die erste große Ausstellung in der neuen Galerie. Es geht nicht nur um deinen Kopf.«
»Ich weiß.« Clare schloß kurz die Augen, als sie daran dachte, wieviel Geld, Zeit und Hoffnungen die LeBeaus in ihre neue, vergrößerte Galerie investiert hatten. »Ich lasse euch nicht hängen.«
Angie bemerkte, daß Clare trotz gegenteiliger Beteuerungen genauso nervös war wie sie alle. »Das wissen wir«, sagte sie, wobei sie absichtlich einen leichten Tonfall anschlug. »Wir
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