Dunkle Herzen
Baby auf jeder Hüfte.
Bildhübsch war die Mutter damals gewesen, dachte Clare, trotz der schrecklichen Frisur und dem übertriebenen Make-up der damaligen Zeit. Auch heute noch galt Rosemary
Kimball mit ihrem blonden Haar, den blauen Augen, der ausgezeichneten Figur und den feinen, ebenmäßigen Gesichtszügen als eine ausgesprochen gutaussehende Frau.
Ein Foto von Clares Vater in Shorts, mit Gartenerde an den knochigen Knien, der sich auf seine Hacke lehnte und selbstsicher in die Kamera grinste. Sein rotes Haar war zu einem Bürstenschnitt gestutzt, und seine blasse Haut zeigte erste Anzeichen eines Sonnenbrandes. Jack Kimball schien nur aus Beinen und Ellenbogen zu bestehen, eine linkische menschliche Vogelscheuche, die Blumen über alles geliebt hatte.
Tränen traten Clare in die Augen, als sie weiterblätterte. Weihnachtsfotos, sie und Blair vor einem schiefen Weihnachtsbaum. Beide saßen auf glänzenden roten Dreirädern. Obwohl sie Zwillinge waren, bestand keine große Ähnlichkeit. Blair ähnelte äußerlich eher der Mutter, Clare dem Vater, so, als ob sich die Babys bereits im Mutterleib jeder für eine Seite entschieden hätten. Blair sah vom Kopf bis zu den Spitzen seiner roten Kniestrümpfe wie ein kleiner Engel aus. Clares Haarband hatte sich gelöst, und die weißen Strumpfhosen unter ihrem gestärkten Organdykleid schlugen Falten. Sie war nun mal das häßliche Entlein der Familie, das es nie ganz geschafft hatte, sich zu einem schönen Schwan zu mausern.
Die folgenden Fotos dokumentierten das Leben einer Familie mit heranwachsenden Kindern. Geburtstage, Picknicks, Urlaub, Freizeit. Ab und an tauchten Bilder von Freunden oder Verwandten auf. Blair, der bei der Memorial-Day-Parade in seiner schmucken Uniform die Main Street entlangmarschierte. Clare, den Arm um Pudge, den fetten Beagle, gelegt, der mehr als zehn Jahre lang ihr Haustier gewesen war. Die Zwillinge zusammen in einem Zelt, das die Mutter hinten im Hof aufgestellt hatte. Die Eltern im Sonntagsausgehstaat vor der Kirche, an einem Ostersonntag. Damals war der Vater reumütig in den Schoß der katholischen Kirche zurückgekehrt.
Auch eine Sammlung von Zeitungsausschnitten über Jack Kimball war dabei. Einmal hatte ihm der Bürgermeister
von Emmitsboro in Anerkennung seiner Verdienste um die Gemeinde eine Ehrenmedaille verliehen. Ein anderer Bericht handelte von ihrem Vater und Kimball Realty ; die Ein-Mann-Firma, die zu einem florierenden Großunternehmen mit vier Niederlassungen angewachsen war, wurde als Musterbeispiel für die Verwirklichung des amerikanischen Traums beschrieben.
Jack Kimballs größter Coup war der Verkauf einer hundertfünfzig Morgen großen Farm an eine Baugesellschaft, die sich auf die Planung und Konstruktion von Einkaufszentren spezialisiert hatte, gewesen. Einige Einwohner beklagten damals zwar, daß die ruhige Abgeschiedenheit von Emmitsboro einem Achtzig-Betten-Motel, Fastfoodläden und Warenhäusern zum Opfer fallen sollte, aber die Mehrheit war der Ansicht, Fortschritt tue dringend not. Das Einkaufszentrum würde Arbeitsplätze schaffen und den Lebensstandard verbessern.
Clares Vater gehörte zu denjenigen Vertretern der städtischen Prominenz, die beim ersten Spatenstich anwesend waren.
Danach hatte er zu trinken begonnen.
Anfangs noch in Maßen, so daß kaum jemand etwas bemerkte. Zwar schien er stets von einer Whiskeydunstwolke umgeben, doch ging er weiterhin seiner Arbeit nach und kümmerte sich um den Garten.
Je mehr sich das Einkaufszentrum der Fertigstellung näherte, desto mehr trank er.
Zwei Tage nach der prunkvollen Eröffnungsfeier an einem schwülheißen Augustabend leerte er eine ganze Flasche und stürzte oder sprang danach aus dem Fenster im dritten Stock.
Niemand hielt sich zu der Zeit im Haus auf. Ihre Mutter war bei dem monatlich stattfindenden Treffen mit ihren Freundinnen, wo gegessen, gelacht und geklatscht wurde, Blair zeltete mit Freunden im Wald östlich der Stadt. Und Clare selbst sprudelte vor Freude und Erregung über ihr erstes Rendezvous geradezu über.
Mit geschlossenen Augen, das Album fest an sich gepreßt,
schlüpfte Clare wieder in die Hülle des fünfzehnjährigen, für sein Alter hoch aufgeschossenen Mädchens, dessen riesige Augen vor Aufregung funkelten. Sie hatte den Abend auf der ländlichen Kirmes verbracht.
Im Arm hielt sie den kleinen Stoffelefanten, der Bobby Meese sieben Dollar fünfzig gekostet hatte, bis er ihn endlich an der Schießbude gewann. Im
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