Dunkle Küsse: Ein Vampirthriller (German Edition)
nicht vor der Dunkelheit. Nicht so richtig. Aber seit ich zu einem geworden bin, ist mir nur zu bewusst, was in der Nacht noch alles herumschleicht. Ich beschleunige meine Schritte. Das beste Versteck ist da, wo dich alle sehen können.
Dieser Satz schießt mir durch den Kopf, als ich mich dem mystischen Wasserfall nähere, der den Eingang zu dem unterirdischen Versteck vor der ahnungslosen Öffentlichkeit verbirgt. Ich trete hindurch, kein ganz angenehmes Gefühl, außer man geht gern durch kalte, nasse Spinnennetze. Ich weiß nicht viel über die Magie, die dahintersteckt, aber ich weiß, dass ich auf der anderen Seite unsichtbar für jeden bin, der hinter mir vorübergeht.
Ich fische in meiner Handtasche nach dem glänzenden Messingschlüssel, der die Tür öffnet, vor der ich jetzt stehe. Dahinter ist ein Empfangsbereich mit einem Schreibtisch, auf dem ein Computer steht. Ich drücke ein paar Tasten, und das gesamte »Vorzimmer« verwandelt sich in einen Aufzug, der mich nach unten bringt.
Ganz gleich, wie oft ich das mache, es erstaunt mich jedes Mal wieder. Mission Impossible meets Stargate .
Und dieser Vergleich setzt sich drinnen fort.
Der Aufzug entlässt mich in einen großen, offenen Raum voller Schreibtische, selbst zu dieser frühen Stunde von der Schar menschlicher Medien und Hellseher besetzt, deren Arbeit diese Operation finanziert. Auf der Kante eines Schreibtischs, im Gespräch mit einer Frau, die ich nicht kenne, sitzt eine vertraute Gestalt.
»Guten Morgen, Sorrel«, sage ich.
Die Frau dreht sich um und lächelt strahlend, während ihre ruhigen blauen Augen mich erkunden. Sie erinnert mich an eine Disney-Cinderella – groß, gertenschlank, blond. Doch diese Cinderella ist aufgebrezelt mit einem Donna-Karan-Business-Kostüm und schicken Jimmy Choos. Ihr Gesichtsausdruck erinnert mich an den einer Katze, sie prüft die Luft, liest darin, bis sie die Antwort erhält, die sie sucht. »Guten Morgen, Anna. Wir sind wohl heute Nacht gar nicht ins Bett gekommen?«
Sorrel ist blind, obgleich man das nie vermuten würde, wenn man sie beobachtet. Sie ist außerdem Empathin. »Diesen Trick musst du mir irgendwann einmal verraten.«
Sie lacht. »Trick? Nein. Das ist eine Begabung. Und wie bei den meisten Gaben braucht man dafür Übung und Konzentration.« Sie lässt die manikürten Finger leicht flattern. »Es liegt alles in der Luft, Anna. Du brauchst es nur herauszufiltern.«
Ich ahme ihre flatternden Finger nach. »Dass ich die ganze Nacht lang aufgeblieben bin, schwebt also irgendwo im Äther herum?«
»Nein, aber deine Erschöpfung. Die kann ich spüren. Ich könnte dir helfen, das weißt du ja.«
Ihre besondere Gabe ist es, anderen Gelassenheit zu bringen. Sie hat es einmal bei mir versucht. Es hat funktioniert. Es hat mir aber auch den Drive genommen, den ich brauche, um die Dinge tun zu können, die ich eben tue. Wenn ich überleben will, kommt das nicht in Frage.
Ich brauche ihr das nicht zu erklären, sie weiß es und hat Verständnis dafür.
Sorrel lächelt. »Ich freue mich immer, dich zu sehen, Anna.«
Obwohl sie ihre Gabe nicht absichtlich einsetzt, wirkt sie auf mich. Ihr Lächeln hebt meine Laune enorm.
Sie wendet sich wieder der Unterhaltung zu, die ich unterbrochen habe, und ich gehe weiter zu den Büros an der hinteren Wand. Williams’ Tür steht offen, und er blickt kurz auf, als ich eintrete, um sich gleich wieder seiner Lektüre zuzuwenden.
Williams sitzt hinter einem metallenen Schreibtisch, mit konzentriert gesenktem Kopf. Er ist groß, schlank und sieht aus wie Mitte fünfzig, weil er sich das dunkle Haar von einem Profi mit grauen Strähnen durchziehen lässt. Heute trägt er keine Uniform, sondern Jeans, eine Bomberjacke aus braunem Leder, ausgelatschte Nikes und ein rosa Polohemd.
Ein rosa Hemd?
Er blickt von den Unterlagen auf, die er studiert hat, runzelt die Stirn und hebt verlegen eine Hand an die Brust. Meine Frau hat es mir geschenkt. Was stimmt denn nicht damit?
Williams’ Frau ist menschlich. Sie weiß von der wahren Natur ihres Mannes und akzeptiert sie. Es gibt viele in der übernatürlichen Gemeinschaft, die mit Sterblichen »verheiratet« sind – ein Konzept, das mir immer noch nicht ganz in den Kopf will. Dennoch finde ich es amüsant, dass dieser mächtige alte Vampir fürchtet, ich könnte mich wegen der Farbe eines Hemdes abschätzig über seine Frau äußern. Amüsant und rührend.
Er liest all das aus meinen Gedanken, weil ich sie zu ihm
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