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Dunkle Materie

Dunkle Materie

Titel: Dunkle Materie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aner Shalev
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finden, an der sie gestern Mittag mit den Wodkaflaschen gesessen hatten, kurz bevor sie auf das Dach der Twin Towers hinauffuhren, als könne er sie beide mit ein bisschen Glück dort noch finden und man könne von diesem Punkt aus die Geschichte anders fortsetzen, aber die Stelle, an der sie gesessen hatten, war leer, auch die Bänke daneben waren verlassen und nass vom Regen, und ein New Yorker Herbstwind rüttelte drohend an den Bäumen, und er beschloss, den Platz zu verlassen und zur 57. Straße zu gehen, eine innere Stimme sagte ihm, dass sie dort sein könnte, denn das war es, was sie hatte sehen wollen, die Straße, in der er wohnte, das war für sie der interessanteste Ort in New York.
    Er verließ den Platz durch den albernen Triumphbogen, bewegte sich mit schnellen Schritten die Fifth Avenue entlang Richtung Norden, er versuchte herauszufinden, wie viel Zeit er für jeden Block brauchte, er wollte ausrechnen, wie lange er brauchen würde, um zu der Straße zu gehen, die er vor zwei Tagen verlassen hatte. Um Zeit zu sparen, hätte er zwar ein Taxi nehmen können,aber dieser Fußmarsch schien ihm irgendwie nicht völlig überflüssig zu sein, wenn er Glück hatte, könnte er unterwegs Eva treffen, und er wunderte sich über die plötzliche Sonne und das frühlingshafte Wetter, kaum zu glauben, dass es gestern geschneit hatte und er noch vor einer halben Stunde gesehen hatte, wie Menschen mit Regenschirmen den Platz überquerten, so unbeständig war alles, und vielleicht hatte jeder Stadtteil New Yorks ein anderes Klima. Doch ab der 50. Straße aufwärts spürte er eine gewisse Unruhe und brachte dies in Zusammenhang mit der Chance, Ruth zu treffen, er sagte sich, hier wandere ich durch die Straßen von New York und suche eine Frau, während ich zugleich eine andere keinesfalls treffen möchte, und dieser doppelte Auftrag schien ihm verwirrend, im besten Falle, und er überlegte kurz, wen er eigentlich suchte und vor wem er Angst hatte.
    An einem normalen Tag wäre Ruth jetzt bei der Arbeit, im Krankenhaus Mount Sinai in der Upper East Side, und es gab keinen Grund für die Befürchtung, sie könne mitten in Manhattan in der Fifth Avenue spazieren gehen, aber heute war kein gewöhnlicher Tag, sondern ein Wochenende, noch dazu Thanksgiving, sodass er keine Ahnung hatte, wo sie gerade sein könnte, und ihm fiel ein, dass er sich vor zwei Tagen, vor seiner angeblichen Abreise nach Washington, nicht nach ihren Plänen erkundigt hatte, er fragte sie nie, was sie vorhatte, so wenig wie sie ihn fragte, er wusste nur, dass sie zum feierlichen Abendessen zu ihrem Bruder nach Long Island fahren wollte, aber von der Zeit danach wusste er nichts, es war, als habe sich im Lauf der Ereignisse ein schwarzes Loch aufgetan.
    Und er fragte sich, warum Ruth ihn nie anrief, wenn er auf Reisen war, oder ihm wenigstens eine Mail schickte, war es denn so schwer, eine Mail zu schicken? Hätten sie Mailkontakt, könnte er zum Beispiel im Konsulat über Internet mit ihr in Verbindung treten oder wenigstens erfahren, wo sie gerade war und wie sie sich fühlte, doch so hatte er keine Ahnung, ob es ihr gut gingoder schlecht, ob sie satt war oder hungrig, ob sie an ihn dachte oder ob sie vielleicht an einen anderen dachte, vielleicht war sie auf Long Island oder in New York, vielleicht machte sie Einkäufe in der Fifth Avenue und er konnte ihr jeden Moment zufällig begegnen.
    Er kam zur 57. Straße und bog nach rechts ab, und als er die Park Avenue erreicht hatte, betrat er die große Filiale von Borders, wo er und Ruth fast jeden Samstag Bücher kauften, einen Kaffee tranken und in den Wochenendzeitungen blätterten, er wollte sichergehen, dass Ruth nicht oben in der zweiten Etage war und vor dem hohen Bogenfenster Kaffee trank, vielleicht hatte sie ihn schon auf der Straße entdeckt und wusste nicht, was sie davon halten sollte, er fuhr mit der Rolltreppe zum zweiten Stock und dachte sich für den Fall, dass Ruth dort sein sollte, eine plausible Geschichte aus, schnell prüfte er die Tischreihen, empfand eine unverständliche Enttäuschung und ging zur Theke, um sicher zu sein, dass sie auch dort nicht war, und weil er nun schon in der Warteschlange stand, beschloss er, noch eine Weile zu bleiben, hier im zweiten Stock von Borders, wo er sich fast zu Hause fühlte, mit all den Büchern und Magazinen und den

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