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Dunkle Materie

Dunkle Materie

Titel: Dunkle Materie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aner Shalev
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einfachste Methode wäre nach Hause zu gehen und das Buch an seinen Platz neben ihrem Bett zurückzulegen, vorausgesetzt, Ruth war nicht da, und das konnte er mit einem Anruf leicht herausfinden, er könnte auflegen, wenn sie antwortete, und eigentlich konnte er, wenn er wollte, sogar mit ihr sprechen, er könnte sagen, er riefe aus Washington an, um zu wissen, wie es ihr ging, so etwas war unter Ehepaaren üblich, aber in ihrem Falle wäre es ungewöhnlich und würde vermutlich Misstrauen wecken.
    Er rief sie nie von unterwegs an, und auch sie rief ihn nie an, wenn sie auf einem ihrer medizinischen Kongresse irgendwo in der Welt war, und nur selten schrieb sie ihm eine kurze Mail: Bin gut angekommen, oder: Der Vortrag lief bestens, sodass es seltsam aussehen würde, sie aus Washington anzurufen, es sei denn, er dachte sich einen besonderen Grund aus, zum Beispiel, dass er früher nach Hause komme, er könnte sagen, einige Termine seien abgesagt worden und er überlege sich, vielleicht schon ein paar Tage eher zurückzufliegen, und er dachte noch eine Weile über die Ausrede mit den abgesagten Terminen nach, sie kam ihm wie eine Methode vor, Ruth indirekt mitzuteilen, hör mal, du wirst nicht glauben, was passiert ist, meine Geliebte ist verschwunden, wir wollten eine Woche zusammen sein, aber offenbar haben ihr vierundzwanzig Stunden mit mir gereicht, es ist zwar nicht angenehm, das zuzugeben, aber jetzt bin ich eigentlich frei.
    Er fragte sich, was geschehen würde, wenn er tatsächlich so etwas sagen würde, wenn er Ruth die Wahrheit sagen würde, war es denn so sicher, dass sie nichts wissen wollte, oder wollte sie, wenn sie ehrlich war, letztlich doch, dass er sie bei allem, was ihm geschah, einbezog, und hatte nur Angst, es von ihm zu verlangen, vielleicht wartete sie darauf, dass er den ersten Schritt machte, von sich aus, ohne dass sie ihn dazu ermutigte, einen kleinen Schritt auf sie zu, vielleicht hatte er jetzt, am Thanksgivingtag, da er so unerwartet allein war, die Chance, diesen Schritt zu machen und ihr alles zu erzählen und zu sehen, was dann passierte.
    Eigentlich war er schon in der richtigen Straße, in der 57. Straße, er müsste nur Borders verlassen und einige Blocks Richtung Osten gehen, die Lexington und die Third Avenue überqueren, dann die Second und die First Avenue, er musste das Haus Nr. 411 betreten, zehn Stockwerke hinauffahren und ihr alles erzählen, wer weiß, vielleicht würde seine Beichte die Nähe erzeugen, nach der sie sich seit Jahren sehnten, vielleicht würde sie ihm alles verzeihen, vielleicht würde sie ihm sogar helfen, Eva zu suchen.
    Aber an ihre Tür zu klopfen, also an seine Tür, also an die Tür ihrer Wohnung in der 57. Straße zu klopfen, schien ihm ein unüberlegter Schritt zu sein, vor allem unumkehrbar. Er könnte sie damit auch erschrecken, schließlich war er nicht ihretwegen in New York. Was sie betraf, war er irgendwo in Washington, deshalb wäre es, als würde ein Phantom in die Wohnung einbrechen. Wenn er darüber nachdachte, war ein Anruf sicherer, da konnte er, wenn er wollte, sagen, er rufe aus Washington an, wenn er wollte, konnte er auflegen, oder er konnte ihr die Wahrheit sagen, und wenn sie nicht zu Hause war, konnte er ohne Angst nach Hause gehen und ihr das Buch ans Bett legen.
    Er trank den Cappuccino aus, aß den Rest des Muffins, warf einen letzten Blick auf die Straße, die er durch das Bogenfenster sah, verließ seinen und Ruths Stammplatz, ging an den Wartenden vorbei zur Kassiererin hinter der Kaffeetheke und fragte, gibt es hier ein Telefon? Die Kassiererin warf ihm einen kurzen, tadelnden Blick zu, als zögere sie mit der Antwort, und dann deutete sie gelangweilt in Richtung Toilette, in dem Flur davor war eine Reihe von Telefonapparaten, er hatte nur um ein Telefon gebeten und bekam eine ganze Reihe, dieser Umstand gab ihm die Sicherheit, dass es richtig war, Ruth anzurufen, er nahm vier Quarter aus der Brieftasche, warf sie in den Automaten, feierlich, einen nach dem anderen, als handelte es sich um ein Ritual, und wählte seine eigene Telefonnummer, und nach fünf Klingeltönen hörte er Ruth sagen, wir können gerade nicht ans Telefon gehen, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.
    Er legte auf, beschämt, als wäre ein genialer Plan, den er ausgeheckt hatte, im kritischen Moment gescheitert, weil er ein kleines Detail vergessen

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