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Dunkle Materie

Dunkle Materie

Titel: Dunkle Materie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aner Shalev
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Wochenendzeitungen aus aller Welt, er empfand eine angenehme Wärme, als wäre es ein normales Wochenende, ohne Stürme, ohne Abenteuer oder Aufregungen, ohne Unsicherheiten, ohne mysteriöses Verschwinden. Plötzlich packte ihn Sehnsucht nach einem durchschnittlichen Wochenende, er bestellte sich einen großen Cappuccino und einen Apfel-Zimt-Muffin, setzte sich an den Tisch, den er und Ruth bevorzugten und der zufällig frei war.
    Er schaute hinunter auf die Straße, dann wieder zur Rolltreppe, die immer die falschen Leute ausspuckte, Menschen wie er, die sich am Samstagmittag eine Pause gönnten, die für Cappuccino und Muffin anstanden, die sich ans Fenster setzten, manchmal mit einem Buch oder mit einem Stapel Zeitungen, die sie neben die Kaffeetasse legten, ohne überhaupt darin zu blättern, undfür einen Augenblick überlegte er, ob er ein Buch aus einem Regal suchen oder sich eine Zeitung holen sollte, damit auch er irgendetwas ignorieren konnte, vielleicht auch um sich dahinter zu verstecken, falls ein Bekannter vorbeikommen sollte.
    Er trank einen Schluck von dem Cappuccino, der zu schwach war, normalerweise bestellte Ruth einen Espresso und trank nur die Hälfte, die andere Hälfte kippte sie in seinen Cappuccino, um ihn stärker zu machen, aber jetzt würde niemand seinen Cappuccino stärker machen, und wieder betrachtete er prüfend die Menschen, die ihm die Rolltreppe servierte, und plötzlich fühlte er sich entblößt, fast nackt, wenn Ruth käme, würde sie ihn bestimmt sofort sehen, er hätte es vorgezogen, nicht gesehen zu werden, er griff in seine Tasche und zog seine große Agenda vom Konsulat heraus, klappte sie auf und versteckte sich dahinter, und zugleich versuchte er, den Kontakt mit der Umgebung nicht zu verlieren, ihm fiel auf, dass fast jeder Tag des Kalenders in seiner engen Handschrift vollgekritzelt war, nur diese Woche nicht, die Tage dieser Woche waren weiß, ohne jeden Eintrag, kein Treffen, keine Sitzung, kein Termin, nur weiße Tage und Nächte, als wäre diese Woche gestrichen, herausgerissen aus der Zeit.
    Als er die Agenda wieder in die Tasche steckte, fiel ihm ein, dass er auch ein Buch dabeihatte, das Buch, das er für den angeblichen Flug mitgenommen hatte, doch als er es herausholen wollte, stellte er fest, dass es nicht das richtige Buch war, das Buch in seiner Tasche gehörte Ruth, es war ein medizinisches Buch über Knochen, Ruth las bevorzugt solche Bücher, als Fachärztin für Orthopädie war sie bemüht, immer auf dem neuesten Stand der Wissenschaft zu sein, sie wurde auch öfter eingeladen, Vorträge auf Kongressen zu halten, und bereitete sich dann immer nächtelang darauf vor, mit Folien voller bunter Zeichnungen und lateinischer Namen, und manchmal fand er sie morgens schlafend in ihrem Arbeitszimmer, über den Folien, erschöpft wie nach einer Liebesnacht, er brauchte immer neun Stunden Schlaf, sogar zehn,die er meist allein im Schlafzimmer verbrachte, er bewunderte ihre Fähigkeit, nachts zu arbeiten und sich mit vier Stunden Schlaf zu begnügen, manchmal sogar weniger, und in den seltenen Nächten, in denen sie neben ihm schlief, wachte er morgens oft auf, wenn sie schon mit einem Buch raschelte.
    Er schaute in Ruths Buch und wusste nicht, was er tun sollte, es erinnerte in Größe und Umschlagfarbe an das Buch, das er hatte mitnehmen wollen, vermutlich hatte er es einfach verwechselt, und die Tatsache, dass Ruths Orthopädiebuch die ganze Zeit in seiner Tasche war, am JFK , auf dem Washington Square, im Hotelzimmer, neben dem Bett, in dem er mit Eva gelegen hatte, sogar auf dem Dach der Twin Towers, als es angefangen hatte zu schneien, diese Tatsache störte ihn, sie verlangte eine Erklärung, als würden dadurch die Ereignisse in einem neuen Licht erscheinen.
    Er fing an, über Ruths Buch wie über einen Zeugen nachzudenken, stumm zwar, aber dennoch ein Zeuge, vielleicht eine Art Antithese zu Ruth selbst, die nichts wusste und vermutlich auch darauf bestand, nichts zu wissen, aber Ruths Buch wusste alles, nichts war vor ihm verborgen geblieben, es war überall dabei gewesen, und plötzlich fiel ihm ein, dass Ruth das Buch vielleicht brauchte, vielleicht hatte es ja nicht zufällig neben dem Bett im Schlafzimmer gelegen, möglicherweise suchte sie es sogar, wenn er es ihr nur irgendwie bringen könnte, ohne entdeckt zu werden.
    Die

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