Dunkle Schwinge Bd. 2 - Der dunkle Pfad
heraus, hielt das Heft fest umschlossen und die Spitze nach oben.
Das gyaryu bestand aus einem dunklen Metall und war etwas mehr als einen Meter lang. Es glänzte aufgrund der sorgfältigen Pflege, die ihm zuteil geworden war. Auf einmal nahm Jackie ein Geräusch wahr, so leise, dass es gerade noch hörbar war – wie das Vibrieren eines gespannten Drahts. Gleichzeitig kam es ihr vor, als würde die Klinge alles Licht im Raum in sich aufsaugen und die Umgebung dämmrig erscheinen lassen. Sie wusste, es war irgendeine Art von Illusion, doch sie empfand sie als sonderbar verlockend.
Der alte Gyaryu’har schien ihre Reaktion zu beobachten, so wie es ihre eigenen Junioroffiziere bei Stabsbesprechungen taten, weil sie früh genug jede Spur von Unzufriedenheit oder Verärgerung bemerken wollten. Nein, das hier war mehr als ein bloßes Beobachten. Es kam ihr vor, als wollte er feststellen, ob ihr beim Ziehen der Klinge irgendetwas aufgefallen war.
Aufgefallen war es ihr, doch was es zu bedeuten hatte, konnte sie nicht mit Gewissheit sagen.
»se Sergei …«
»Ich möchte Ihnen noch etwas anderes erzählen, se Jackie. Der Hohe Lord überreichte Admiral Marais das gyaryu, als ihm klar wurde, dass das Sol-Imperium und damit die Menschheit nicht der Feind war – und wohl auch niemals der Feind gewesen war. Der Krieg hat das Leben so vieler Menschen und Zor verändert, dennoch wirkten diese Veränderungen so wie das Ergebnis einer mit Schwächen behafteten Vision. Mein Leben, meine Karriere …«
»Ihre Karriere war durch den Krieg zunichte gemacht worden«, sagte Jackie, die reglos in der Dunkelheit saß.
»Nun«, erwiderte Sergei, »eine Karriere war zerstört.« Er schob die Klinge zurück in die Scheide und legte die Hände darüber. »Wir haben uns mit der Ironie unserer Situation getröstet – dass unser Dienst für den Imperator endete, weil wir zu gute Arbeit geleistet hatten. Im Imperium herrschte damals die Meinung vor, dass es in wenigen Jahren wieder einen Krieg geben würde, der brutaler als alle vorangegangenen Konflikte ausfallen musste. Die Zor mussten noch wütender und rachsüchtiger als zuvor sein, weil Admiral Marais so unglaublich brutal gegen sie vorgegangen war.«
»Eine logische Folgerung.«
»Nach menschlicher Logik, se Jackie. Aber nicht nach der Logik der Zor. Nichts konnte rückgängig gemacht werden, der Flug des Volkes war unwiderruflich verändert worden. Und wir alle änderten uns damit auch: das Imperium, die Nester, einfach alles … bis auf eines, nämlich den wahren Feind, den wir nicht zu Gesicht bekamen. Er änderte sich nicht, er blieb der Feind. Er ist noch immer dort, und der Hohe Lord Ke’erl HeYen hat die dunklen Schiffe am Rand zu unserem Gebiet gefühlt.«
»Dunkle Schiffe«, wiederholte Jackie.
»Horace Tolliver hat mir nicht geglaubt, als ich ihm sagte, dass hi Ke’erl geträumt hatte. Es ist eigenartig – Ihre Analyse könnte exakt zutreffen: Die Gustav Adolf II. und die Negri Sembilan sind dem Feind begegnet, der von hi’i Sse’e vor so vielen Jahren wahrgenommen worden war. Seit all dieser Zeit … wartet er auf uns – so wie wir es immer glaubten.«
»Moment mal.« Jackie lehnte sich gegen einen Beistelltisch. »Warten Sie mal einen Augenblick, se Sergei. Der wahre Feind‹? Wollen Sie sagen, das Hohe Nest weiß seit … seit fast einem Jahrhundert von einem Feind? Warum wurde der Imperator nicht auf diese Tatsache hingewiesen?«
»›Dass das Ohr nicht zuhört, daran trägt die Stimme keine Schuld«, zitierte Sergei. »Seit dem Normalisierungsgesetz halten sich Vertreter des Volks am Hof des Sol-Imperiums auf. Es gibt einen Gesandten, der im Hohen Nest als Stimme und Ohr des Imperators fungiert. Glauben Sie wirklich, dieses Thema sei noch nie zur Sprache gekommen?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Ganz richtig. Das Hohe Nest hat immer wieder versucht, der Menschheit zu helfen, aber die Gegenseite unternahm keinerlei Anstrengungen.«
Wenn jemand wissen wollte, wie sehr das Exil den alten Mann vor ihr verändert hatte, musste er nur seinen letzten Satz hören. Als er von der ›Menschheit‹ sprach, da bezog er sich nicht mit ein. Als er das ›Hohe Nest‹ erwähnte, war klar, dass er sich als einen Teil davon betrachtete.
»Was glaubt das Hohe Nest, was als Nächstes geschehen wird?«
Sergei sah zur Seite, als liege ihm eine Antwort auf der Zunge, die er nicht aussprechen wollte.
»Horace Tolliver fliegt mit sechs Schiffen dem Feind entgegen. Vieles
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