Dunkle Seelen
springen und an Land zu schwimmen, so erpicht war sie darauf, die uralte Stadt zu erkunden. Sie könnte es schaffen. Sie würde nicht er trinken. Nicht mit der Macht des Geistes in ihr, nicht jetzt, da sie sich in den Ferien endlich angewöhnt hatte, sich regelmäßig zu nähren.
Es war Isabella zu verdanken, dass Cassies Geist nicht hungern musste. Zu Beginn des vergangenen Trimesters hatte Cassie noch versucht, Estelles Bedürfnisse zu ignorieren. Das hatte sie nun aufgegeben und erfüllte Estelle all ihre Wünsche — bis auf ihren größten: die abgespaltenen Teile ihres Geistes in sich aufzunehmen, wie sie es während jener schrecklichen Nacht im letzten Trimester vorübergehend getan hatte ...
Cassie verbannte die Erinnerung aus ihren Gedanken. Sie wollte jetzt nicht darüber nachgrübeln. Die Dinge hatten sich endlich beruhigt - selbst Estelle schien Cassies beharrliche Weigerung, sie »ganz« sein zu lassen, akzeptiert zu haben. Zumindest für den Augenblick schien sie mit der Situation zufrieden zu sein. Cassie warf Isabella einen verstohlenen Blick zu, und eine Woge der Dankbarkeit und Zuneigung stieg in ihr auf. Wo wäre sie jetzt ohne Isabellas großzügiges, freiwilliges Angebot, Cassie als Lebensquelle zu dienen? Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was dann passiert wäre.
Und doch wirkte Isabella so unglücklich und verloren ohne ihren Jake. Die leidenschaftliche, kurze Romanze war in die Brüche gegangen, weil Isabella gegen den Willen ihres Freundes Cassie genährt hatte. Wie waren die drei Freunde an diesen Punkt gelangt? Cassie hatte das Gefühl, womöglich selbst gleich in Tränen auszubrechen, wenn sie nicht etwas gegen die gedrückte Stimmung unternahm. Sie atmete tief durch.
»Also ... was meinst du? Würde Shoppen dir irgendwie helfen?«, fragte sie und zwinkerte ihrer Freundin zu.
Isabella schüttelte sich und strich sich das wild zerzauste Haar aus dem Gesicht; ihre Mundwinkel zuckten kaum merklich in die Höhe. »Na ja, ich muss zugeben, dass ich auch schon daran gedacht hatte. Wir könnten ja zumindest schon mal den Großen Basar abarbeiten, ja? Solange wir noch Touristen sind.« Ihr Lächeln wurde breiter. Voller Zuneigung begriff Cassie, wie sehr sie sich bemühte. »Und dann - die Boutiquen! Die Galerien! Die wunderbaren Designer!«
»Die Mathestunden...« Cassie drohte ihr spielerisch mit dem Finger und sie kicherten beide.
»Ach ja, die wohl auch.« Isabella hakte sich bei Cassie unter. »Wir werden versuchen, es zu genießen, nicht wahr?«
»Natürlich. Wir werden ein superschönes Trimester haben!«
»Ja. Auch ohne ihn.« Ein kummervoller Schatten glitt über Isabellas Gesicht. »Oh, Cassie, es tut mir leid, dass ich so ein Jammertuch bin. Ich kann nichts dagegen tun.«
»Jammer lappen! Und es ist okay, wirklich. Natürlich vermisst du ihn.« Sie stieß Isabella an und versuchte ein mal mehr, sie aufzuheitern. »Aber er ist in Sicherheit, und das ist die Hauptsache. Er ist viel sicherer, als wenn er zur Schule zurückkehren würde, vor allem in seiner jetzigen Gemütsverfassung. Betrachte es einmal auf diese Weise — in New York ist die Wahrscheinlichkeit, dass er in Schwierigkeiten gerät, viel geringer, stimmt’s? So hat er außerdem die Gelegenheit, die ganze Idee, seine Schwester zu rächen, noch einmal zu überdenken... Und er hat mehr Zeit, um dich zu vermissen, hm?«
»Na ja, das ist wahr.« Isabella lächelte schwach, aber schon bald wurde ihr Gesicht wieder traurig. »Falls er überhaupt noch an mich denkt. Trotzdem mache ich mir Sorgen, Cassie. Er hat doch immer noch dieses seltsame Messer der Auserwählten. Da sind wir uns ziemlich sicher, oder? Und ich...«
»Scht!« Cassie drückte den Arm ihrer Freundin fest und blickte nervös zur Brücke, von wo sich Isabellas Vater näherte.
»Mädchen! Seht ihr die Akademie? Dort drüben!«
Senor Caruso trat hinter sie und gestikulierte mit seiner allgegenwärtigen Zigarre - die Cassie noch nie hatte brennen sehen —, um sie auf etwas direkt vor dem eleganten Bug der Dancer aufmerksam zu machen. Mit einem letzten Blick auf ihre Freundin schaute Cassie in die an gegebene Richtung.
Sie hatte damit gerechnet, dass man sie früher vor warnen würde, aber sie war zu beschäftigt gewesen, sich zu unterhalten und die beiden Ufer Istanbuls anzustarren. Jetzt lag eine kleine Insel vor ihnen, so nahe, dass es schien, als könne sie die Hand ausstrecken und sie berühren. Schon verlangsamte der Kapitän die Fahrt
Weitere Kostenlose Bücher