Dunkle Wasser in Florenz - Roman: Dunkle Wasser in Florenz
Seneca?«
»Manlio Ceramelli De Lupi Scarlini. Das bin ich, angenehm«, stellte sich der alte Herr vor und reichte ihm eine knochige, gepflegte Hand.
»Freut mich, Franco Casini«, sagte der Kommissar. Während sie einander die Hand gaben, sah der alte Herr diskret zu den beiden schönen Frauen hinüber.
»Betrachten Sie sie genau … Die auffällige blonde Signora ist eine treu ergebene Ehefrau, die sich lieber lebendig verbrennen lassen würde, als ihren Gatten zu betrügen. Die andere, die wie eine kleine Nonne wirkt, ist ebenfalls verheiratet, hat jedoch die schlechte Angewohnheit, jeden Abend in ein anderes Bett zu kriechen.«
»Woran haben Sie bemerkt, dass ich genau darüber nachgedacht habe?«, fragte der Kommissar verwundert.
»Ich bilde mir ein, ich könnte erkennen, was den Menschen durch den Kopf geht.«
»Offensichtlich ist das keine bloße Einbildung.«
»Wie auch immer, ich habe Sie angelogen. Ich weiß gar nichts über die beiden Damen, aber ich bemühe mich immer, mich nicht vom ersten Eindruck täuschen zu lassen. Ich fürchte nichts mehr als die Versklavung durch das Vorurteil.«
»Das werde ich von jetzt an auch versuchen.«
»Arbeiten Sie bei der Polizei?«
»Allmählich denke ich, Sie sind ein Zauberer.«
»Ich bin kein Zauberer. Vor einigen Monaten habe ich zufällig Ihr Bild in der Zeitung gesehen, und ich bin glücklich, noch über ein sehr gutes Gedächtnis zu verfügen.« Der alte Herr tippte sich mit dem Finger an die Schläfe. Casini wurde immer neugieriger, mehr über den seltsamen Herrn mit den drei Nachnamen zu erfahren.
»Und Sie, was machen Sie so im Leben, wenn ich das fragen darf?«
»Ich bin ein Vermögensvernichter. Auf den ersten Blick mag das eine ziemlich einfache Beschäftigung sein, doch tatsächlich birgt es unzählige tückische Hindernisse.«
»Und welche?«
»Schuldbewusstsein, Angst vor Armut und Verachtung, die herrschende Moral, Anfälle von Geiz, Weitblick … Ich könnte diese unselige Aufzählung fortführen, aber ich ziehe es vor, Sie nicht zu langweilen.«
»Das muss wirklich eine anstrengende Beschäftigung sein.«
»Äußerst anstrengend, wie ich Ihnen versichern kann. Wegen dieser Hindernisse ist es mir gelungen, eine Wohnung zu retten, die letzte, die mir geblieben ist. Das oberste Stockwerk in der Via de’ Bardi mit Blick auf den Ponte Vecchio. Wie Sie sehen, bin ich kein guter Vermögensvernichter, sonst hätte ich schon vor längerem Quartier unter einer Brücke bezogen, vielleicht dans un château en carton , einem Schloss aus Pappe.«
»Ein sehr romantisches Bild.«
»Sie werden sich vielleicht fragen, aus welchem Grund ich Ihnen mit solcher Leichtigkeit von meinem persönlichen Schicksal erzähle, obwohl Sie mir vollkommen fremd sind. Ich gestehe, ich weiß es selbst nicht einmal, es ist das erste Mal, dass mir so etwas passiert. Aber ich freue mich, wenn ich mich in meinem Alter immer noch selbst überraschen kann.«
»Das würde ich auch gern.«
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, meinte Manlio Ceramelli De Lupi Scarlini.
»Ich hoffe, keine allzu schwere.«
»Oh, sie ist furchtbar einfach. Könnten Sie so freundlich sein, mir tausend Lire zu leihen?«
»Äh … aber sicher«, sagte Casini und holte sein Portemonnaie aus der Tasche. Er nahm einen Tausendlireschein und reichte ihn dem alten Herrn.
»Sehr freundlich.« Ceramelli De Lupi Scarlini steckte das Stück Papier mit eleganter Geste ein und schlug die Beine übereinander. Er versank in wehmütige Erinnerungen wie ein pensionierter Bahnhofsvorsteher, der nach vielen Jahren noch einmal eine Dampflokomotive sieht. Der Kommissar hätte ihm gern noch einmal tausend Lire gegeben, aber er hatte Angst, ihn zu beleidigen. Er drehte sich nach den beiden Frauen um, aber in der Zwischenzeit waren sie gegangen.
»Entschuldigen Sie mich einen Moment«, sagte er und erhob sich. Er ging zur Toilette, und als er wieder in den Gastraum zurückkehrte, war der alte Herr verschwunden. Er ging zur Kasse, um zu bezahlen, aber der Barmann sagte ihm, dass sein Kaffee schon bezahlt worden war. Als er das Giubbe Rosse verließ, sah er, dass auf dem Tisch von Ceramelli De Lupi Scarlini ein Trinkgeld von dreihundert Lire lag, und da musste er lächeln.
Am nächsten Morgen machte sich Casini in aller Frühe auf den steilen Weg von La Panca zur Abtei Monte Scalari. Er hatte sich schweres Schuhwerk angezogen und eine Windjacke mit Kapuze, falls es regnen sollte. Er war nicht auf der Suche nach
Weitere Kostenlose Bücher