Dunkler Rausch der Sinne
gebieterisch.
Gabriel spürte den unterschwelligen Zwang, der auf ihn ausgeübt wurde,
noch während er mit einem Satz auf seinen Bruder losging. Das verzweifelte
»Nein!« seiner Gefährtin gellte ihm in den Ohren, als er in letzter Sekunde mit
den Krallen seiner Hand die Kehle seines Zwillingsbruders aufriss. Erst in diesem
Moment erkannte er, dass Lucian beide Arme weit ausgebreitet hatte, als würde
er den tödlichen Schlag willkommen heißen.
Kein Vampir würde so etwas je tun. Niemals! Die Untoten kämpften bis
zum letzten Atemzug gegen alles und jeden in ihrer Nähe. Das eigene Leben zu
opfern, entsprach nicht dem Wesen eines Vampirs.
Die Erkenntnis kam zu spät. Scharlachrote Blutstropfen spritzten aus
der Wunde. Gabriel versuchte seinen Bruder zu erreichen, aber Lucians Macht war
zu groß. Gabriel war außerstande sich zu rühren und sah sich durch Lucians
Willen gezwungen, wie angewurzelt stehen zu bleiben. Seine Augen weiteten sich
vor Überraschung. Lucian hatte so viel Macht. Gabriel war einer vom alten Stamm
und mächtiger als fast jeder andere auf Erden - und Lucian ebenbürtig, hätte er
bis zu diesem Augenblick gesagt.
»Du musst dir von uns helfen lassen«, sagte Francesca, Gabriels
Gefährtin, leise. Ihre Stimme war kristallklar und begütigend. Sie war eine
große Heilerin. Wenn jemand Lucians Tod verhindern konnte, dann sie. »Ich weiß,
was du vorhast. Du willst es hier und jetzt zu Ende bringen.«
Lucians weiße Zähne blitzten. »Gabriel hat jetzt dich und ist dadurch
in Sicherheit. Bisher war das meine Aufgabe, aber jetzt ist sie beendet. Ich
brauche Ruhe.«
Blut
tränkte seine Kleider und lief an seinen Armen hinunter.
Er versuchte nicht, es zu
stillen, stand einfach nur da, groß und sehr aufrecht. Kein Vorwurf lag in
seinen Augen oder seiner Stimme.
Gabriel schüttelte den Kopf. »Du hast es für mich getan. Vierhundert
Jahre lang hast du mich getäuscht. Du hast mich vor dem Töten bewahrt, vor dem
Weg auf die dunkle Seite. Warum? Warum hast du auf diese Weise dein Seelenheil
aufs Spiel gesetzt?«
»Ich wusste, dass irgendwo eine Gefährtin auf dich wartet. Jemand, der
es wissen musste, teilte es mir vor langer Zeit mit, und ich wusste, dass er
mir keine Unwahrheit sagen würde. Du hast deine Empfindungen nicht so schnell
verloren wie ich. Bei dir hat es Jahrhunderte gedauert. Ich war noch sehr jung,
als ich aufhörte, Gefühle zu haben. Aber du hast deinen Geist mit meinem
verbunden, und so konnte ich deine Lebensfreude teilen, konnte mit deinen Augen
sehen. Du hast mir bewusst gemacht, was ich selbst niemals haben würde.« Lucian
taumelte.
Gabriel, der nur darauf gewartet hatte, dass Lucian schwächer werden
würde, nutzte diesen Moment aus, um zu seinem Bruder zu springen und mit seiner
Zunge über die klaffende Wunde, die er geschlagen hatte, zu lecken und sie zu
verschließen.
Seine Gefährtin war an seiner Seite. Sehr behutsam nahm sie Lucians
Hand in ihre. »Du glaubst, dass dein Dasein keinen Sinn mehr hat.«
Lucian schloss müde die Augen. »Über zweitausend Jahre lang habe ich
gejagt und getötet, Schwester. Meine Seele ist ausgehöhlt. Wenn ich jetzt nicht
gehe, bin ich später vielleicht nicht mehr in der Lage dazu, und dann wäre mein
geliebter Bruder gezwungen, zumindest den Versuch zu machen, mich zu
vernichten. Es wäre keine leichte Aufgabe. Er darf sich nicht in Gefahr
bringen. Ich habe meine Pflicht getan. Lasst mich in Frieden ruhen.«
»Es
gibt eine andere«, sagte Francesca leise zu ihm. »Sie ist nicht wie wir. Sie
ist eine Sterbliche. Zur Zeit ist sie noch jung und leidet schrecklich. Ich
kann dir nur sagen, dass ihr, wenn du sie nicht findest, ein Leben von solcher
Qual und Verzweiflung bevorsteht, wie nicht einmal wir mit all unserem Wissen
es uns ausmalen können. Für sie musst du leben. Für sie musst du aushalten.«
»Willst
du damit sagen, dass es eine Gefährtin für mich gibt?«
»Ja, es gibt sie und sie braucht dich sehr.«
»Ich
bin kein sanftmütiger Mann. Ich habe zu lange getötet, um mir ein anderes
Dasein vorstellen zu können. Eine Sterbliche an mich zu binden wäre, als würde
man sie dazu verurteilen, mit einem Monster zu leben.« Obwohl er diese
Einwände erhob, wehrte Lucian sich nicht, als Gabriels Gefährtin begann, seine
tiefe Wunde zu versorgen. Gabriel füllte den Raum mit dem Duft wohltuender
Kräuter und stimmte den Gesang der Heilung an, der so alt wie die Zeit selbst
war.
»Ich
werde dich jetzt heilen, mein Bruder«,
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