Dunkler Schnee (German Edition)
1. Nova Scotia – „Es war ein Schuss!“
Eine junge Frau mit dunklem Pagenkopf, auf dem eine helle Strickmütze sitzt, kämpft sich durchs kahle Gestrüpp. Hie und da bleibt sie mit ihrer Steppjacke an Zweigen hängen, mitunter bricht sie auf gefrorenen Pfützen ein oder tritt in eine Matschkuhle, in der der Frost sein Werk noch nicht vollenden konnte.
Marisa unterbricht ihren Spaziergang, um zu verschnaufen, und lässt den Blick schweifen.
Der Himmel über den Wäldern Nova Scotias gibt dem frühen Wintertag ein farbiges Gesicht, das scheinbar die Gedanken an Zurückliegendes wie mit einem Lächeln abweisen möchte; Gedanken und Erlebnisse aus der Vergangenheit, die aber wie Kletten an der Frau haften.
Wolken zeichnen mit Sprenkeln und Streifen bizarre Bilder ins winterliche Pastell. In der vergangenen Nacht hat es gefroren, sodass Bäche und Rinnsale erstarrten und zur Kulisse ihres eigenen Daseins wurden; pausierende Lebendigkeit. Der Grand Lake, einer der vielen Seen der Atlantikprovinz, hat mit dem Weben seiner eisigen Decke begonnen, die ihn für die nächsten Monate zur Spielfläche für Eis-Angler, Spaziergänger und Hockeyfans machen wird; die Eisschollen wachsen zusehends und dort, wo Nähte entstanden, sieht es aus, als hätten geheimnisvolle Wesen ihre Pfade angelegt, um den erstarrenden See zu Fuß bis zu den Häusern am gegenüberliegenden Ufer überqueren zu können. Manche Spur zieht sich zu den kleinen Inseln, die sonst einsam inmitten des Gewässers Enklaven der Vogelwelt sind. Nun sehen sie sich unerwartet mit dem Land vereint.
Der Wald wirkt chaotisch und ungezähmt. Gekippte Bäume, hilflos ineinander verkeilt, zeugen mit ihren zum Himmel ragenden, rippengleichen Ästen von Krankheit und Tod; Stümpfe und abgesägte Zweige von menschlichem Eingreifen; kleine Kiefern und Tannen von der unbändigen Kraft der Natur, alles nachwachsen zu lassen, was irgendwo einen Platz findet.
Hoch über Marisa krähen Rabenvögel auf Beutezug, sie hört sonst nichts außer dem eigenen Atem. Sie lässt eine Handvoll Schnee von ihrem Handschuh rieseln, rüttelt an einem dünnen Tannenbaum und stellt sich unter die fallenden Flocken, dass es kalt auf ihrem Gesicht prickelt, dann stapft sie ein Stück weiter, bis sie ans Ufer des Sees kommt, betrachtet das von Eis überzogene Schilf und schaut zum Himmel, um abzuschätzen, ob es wieder schneien wird. Zwischen den nackten Baumkronen sieht sie von weit hinten eine graue Wolkenwand herankommen, die die aprikosenfarbigen und weißen Tupfer zu überwältigen droht.
Bruno, Marisas Mischlingsrüde, in dem vermutlich Border Collie und Neufundländer stecken, schleppt einen Stock herbei, legt ihn vor ihren Füßen ab, trabt ein Stück ins Gebüsch zurück, dreht sich um und blickt sie mit schief gelegtem Kopf und aufgestellten Ohren an. Marisa hebt den Stock auf und wirft ihn zwischen Bäume, dass der Hund ihm hinterherjagen kann. Die weißen Flecken in Brunos Fell sehen im Vergleich zum winterlichen Niederschlag gelb wie Pergament aus. Der Hund jappt aufgeregt und hat sichtlichen Spaß am Schnee, in den er hin und wieder beißt und darauf herumkaut, als wären es Bröckchen aus Fleisch, bis ein Eichhörnchen seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aufgeregt fiepend und mit wehender Fahne sitzt es auf einem Baum, läuft dann flink herunter, verliert sich fast im Schnee und huscht auf das erstarrte Wasser. Marisa packt Bruno geistesgegenwärtig am Halsband. „Nein, mein Freund, du bleibst hier!“ Das dünne Eis würde ihn nicht tragen. Sie wirft erneut einen Stock, um ihn von dem Nager abzulenken.
Marisa stapft dem Hund hinterher, um sich durch das Gesträuch wieder zu dem Pfad durchzuschlagen, von dem sie gekommen ist. Sie folgt ihren eigenen Spuren, um im Schnee den Weg nicht zu verlieren. Der Wind lebt auf, und sie beginnt, trotz Mütze und Skijacke zu frieren.
Marisa ist noch nicht lange in Neuschottland. Nicht überstürzt, aber dennoch spontan hat sie die Reise angetreten. Zum Kofferpacken hat sie sich kaum Zeit gelassen; überhaupt hat sie den Trip nach Kanada nicht gründlich vorbereitet, obwohl sie letztendlich Großes damit vorhat. Groß sollen die Veränderungen sein, wenngleich sie bis jetzt nur schwammige Vorstellungen der 31Jährigen sind. Das Leben ändern, das steht an vorderster Stelle, und der intuitive Entschluss, nach Kanada zu kommen, soll der Beginn sein.
Nach allem, was geschehen ist …
In den lokalen Wetternachrichten, die
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