Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dunkles Verhaengnis

Dunkles Verhaengnis

Titel: Dunkles Verhaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
Vom Netzwerk:
Chemikalien fraßen sich zuerst durch seine Speiseröhre und dann weiter durch seine Luftröhre, bevor sie den größten Teil seines Magens wegbrannten; für alles, was sie beim ersten Durchgang
nicht erwischten, bekamen sie eine zweite Chance beim Reflux.
    Er brauchte acht Tage, um zu sterben. Sie machten sich diesmal gar nicht erst die Mühe, ihn zu verlegen, da der Gefängnisarzt sagte, für ihn könne niemand mehr etwas tun, man könne ihn ebenso gut auf der Krankenstation behalten. Er werde keine vierundzwanzig Stunden mehr zu leben haben, sagte der Arzt. Dann stand er die ganze Woche kopfschüttelnd neben dem Bett und murmelte immer wieder: Die Jungen, die Gesunden, die sterben immer am schwersten.
    Sie hatten ihn an ein Beatmungsgerät angeschlossen, das mit den beiden Manometern und der abgeflachten, dreieckigen Form an den Kopf eines Insekts erinnerte. Und natürlich füllten sie ihn bis zur Halskrause mit Schmerzmitteln ab. Viele von uns gingen rauf, ihn besuchen. Manche, weil es mal was anderes war, etwas Neues, und alles, was die Monotonie unserer Tage durchbrach, war hochwillkommen, andere, weil sie erleichtert waren, dass nicht sie dort lagen, und höchstwahrscheinlich gab’s auch einige, die sich in einem nur schummrig beleuchteten Winkel ihres Herzens genau das wünschten. Ich besuchte ihn, weil ich einfach nicht kapierte, wie sich jemand wünschen konnte zu sterben. Zu dem Zeitpunkt
hatte ich schon eine Menge durchgemacht, den Krieg, die Straßen, neunzehn Monate Gefängnis, aber dass jemand sterben wollte, das war für mich einfach unvorstellbar. Ich wollte das verstehen. Und ich vermute, ich muss wohl gedacht haben, es würde mir irgendwie helfen zu verstehen, wenn ich auf das hinunterblickte, was von Danny Boy noch übrig war.
    Das war der Anfang. Schneller Vorlauf, von null auf hundert in, oh, ungefähr sechs Jahren, und ich sitze in einem Büro in Memphis und höre Charley »Nennt mich CC« Cooper zu. Die Gardinen vor dem geöffneten Fenster bewegen sich nicht, und an diesem Tag im Frühherbst ist die Luftfeuchtigkeit so hoch, dass man Wasser aus ihnen hätte wringen können. Selbst die Wände schienen zu schwitzen.
    »Bevor ich tot war, bevor ich hierherkam«, sagte CC gerade, »war ich engagiert, verantwortungsbewusst. Ich ging wählen. Ich mähte meinen Rasen und achtete darauf, dass das Gras zur Straße hin immer schön gestutzt war. Ich hielt meine Termine und Verabredungen ein. Ich stellte den Müll an dem Morgen vor die Tür, wenn die Müllabfuhr kam. Meine Kaffeemaschine wurde täglich gereinigt.« Er unterbrach sich, als würde er alles nochmal in Gedanken durchspielen. »Ihr, die Lebenden, seid so unendlich
faszinierend. Eure Gewohnheiten, über die ihr nie nachdenkt, euer Neid und eure Missgunst, wenn ihr euch nach Wärme suchend aneinanderdrängt, wie ihr euer Leben lang ins Dunkel starrt und es doch nie seht.«
    CC hielt sich für eine Maschine. Nicht der erste meiner Patienten, der so etwas glaubte – ich hatte noch zwei oder drei andere gehabt –, aber auf jeden Fall der erste, der es in klare Worte fasste. Das war damals in der Zeit, bevor sie zu Klienten wurden, damals, als wir sie noch Patienten nannten, damals, bevor sich alles – die Medien, die Pädagogik, die Kunst – gnadenlos den Marktgesetzen fügen musste. Und ehrlich gesagt (und obwohl noch einige Zeit vergehen würde, bis ich das begriff), die therapeutischen Werkzeuge, die wir an die Hand bekamen, um sie zu behandeln, fassten die Patienten ebenfalls mehr oder weniger als Maschinen auf, als mechanische Vorrichtungen, die repariert werden mussten: Bau den richtigen Schalter ein, red ihm eine schlechte Verbindung aus, finde das richtige Schmieröl, und sie würden wieder laufen, voll funktionstüchtig, mit allem Drum und Dran.
    Ich erfuhr nie, was aus CC wurde. Er war mir von einem Freund von Cy überwiesen worden, der seine Praxis aufgab, um als Dozent an die Uni zu gehen,
und einer der ersten meiner schwer verhaltensgestörten Patienten, die zu meiner Haupteinnahmequelle werden sollten. Wir hatten ein halbes Dutzend Sitzungen, dann rief er an, um die nächste abzusagen, gab dann zwei Wochen hintereinander kein Lebenszeichen mehr von sich, und das war’s dann. Nichts Ungewöhnliches, eigentlich; die Schwundquote ist verständlicherweise hoch. Natürlich fragt man sich immer, ob und wie man es hätte besser machen können. Doch wenn man überleben will, lernt man loszulassen. Einige Monate später erhielt ich eine

Weitere Kostenlose Bücher