Dunkles Verhaengnis
hierher getötet. In Memphis.«
Kapitel Sechs
An manchen Abenden frischt der Wind ganz allmählich auf, verfängt sich zuerst nur in den Bäumen, erst hier, dann da, so dass man schwören würde, unsichtbare Vögel huschten zwischen ihnen herum.
Die Träume begannen kurz nach Vals Tod. Ich war in einer Stadt, es war immer eine Stadt, zu Fuß unterwegs. Manchmal sah sie aus wie Memphis, andere Male wie Chicago oder Dallas. Es war auch nie eine Gefahr zu spüren, und ich schien auch niemals ein spezielles Ziel erreichen zu müssen oder einen gewissen Zeitplan einhalten zu müssen, trotzdem hatte ich mich verirrt. Die Straßenschilder ergaben für mich keinen Sinn, es war mitten in der Nacht und niemand sonst war unterwegs, nicht einmal Autos, obwohl ich in der Ferne Scheinwerferlicht sah, das durch die Nacht zuckte wie die Fühler von Insekten, deren Körper die Dunkelheit verhüllt.
Ich wachte auf, und draußen vor meinen Fenstern wiegten sich sanft die Bäume, und meistens stand ich auf und stellte mich zwischen sie.
So wie jetzt.
Sah den Schatten einer Fledermaus über einen in Mondlicht getauchten Flecken flitzen, dachte an Val und an etwas, das sie mal zu mir gesagt hatte, etwas, das, glaube ich, von Robert Frost stammte: »Für den Wahrheitsdurst gibt es keine Trinkbrunnen, nur Hydranten.«
Meine Aufgabenliste wurde immer länger. Zu Red fahren wegen des bellenden Hundes. Rauf nach Hazelwood fahren, um mit Miss Chorley zu sprechen, die frühere Besitzerin von Billys Buick, um zu versuchen, herauszubekommen, was mit ihm los gewesen war. Das MPD wegen Isaiahs Freund Merle kontaktieren. Und Eldon helfen – wenn ich auch nicht wusste, wie.
Zu Isaiah hatte ich gesagt, ich würde sehen, was ich tun könnte, um mehr über seinen Freund in Erfahrung zu bringen, und hatte ihn im Gegenzug um einen Gefallen gebeten. »Natürlich«, sagte er. »Was immer Sie wollen.«
Jetzt war Eldon dort oben in den Bergen bei Isaiah und den anderen, wo er in Sicherheit sein dürfte, bis ich wusste, was zu tun war.
Tatsächlich hatte ich mein ganzes Leben darauf gewartet, herauszufinden, was zu tun war.
Damals im Gefängnis hatte es nie einen Moment der Ruhe gegeben. Ständig das Geräusch von Toilettenspülungen,
fiependen Transistorradios, Gehuste und Gefurze und gedämpfte Schreie, das Kreischen von Metall auf Metall. Man lernte, es auszublenden, und dann, eines Nachts, überraschte es einen von neuem, und man lag da und hörte zu, wartete – wartete nicht auf etwas, wartete einfach nur. Genau wie ich Nacht für Nacht hier draußen auf dieser Veranda gesessen hatte, nachdem Val fort war.
Wie Nationen werden auch Individuen von ihren Selbsterzählungen bestimmt, Erzählungen, die erwachsen aus Misserfolgen wie Erfolgen, und die sich im Laufe der Zeit zu Bildern verfestigen, die das Individuum für unangreifbar hält. Identität und Symbologie verschmelzen miteinander. Bedrohungen von außen sind nie bloß physischer Natur, sondern immer auch ontologisch, die Erzählung ist in Gefahr, denn es könnte sich herausstellen, dass sie womöglich falsch ist. Die Identität des Individuums steht auf dem Spiel. Die Erzählung ist zum Selbstzweck geworden – zu etwas, das um jeden Preis zurückerobert werden muss.
Ich dachte über die radikalen Veränderungen in meinen eigenen Selbsterzählungen über die Jahre nach. Und ich musste mich einfach fragen, an welchem Manuskript wohl Eldon jetzt gerade in seinem Kopf schrieb.
Oder Jed Baxter, um seine Verfolgung von Eldon zu rechtfertigen.
Ob nun durch Vererbung, freie Wahl oder puren Zufall, finden wir immer etwas, das für uns funktioniert – Geld scheffeln, Jazz-Piano spielen oder anderen helfen, egal, was –, und daran klammern wir uns, wir reiten das Ding auf Teufel komm raus. Das Problem ist nur, dass es für viele von uns ab einem gewissen Punkt nicht mehr funktioniert. Wer es merkt, dass es nicht mehr funktioniert, findet meistens eine Lücke, einen Ausweg. Die anderen, die nichts mitbekommen, die weiterzumachen versuchen – werden gefangen, wie von einem Panzer. Irgendwann erdrückt er sie.
Ich saß auf der Kante der Veranda. Ein Schwärmer hatte sich in einem Streifen Mondlicht auf dem Balken neben mir niedergelassen.
Damals im Hinterland hielten einige der Typen Insekten in solchen Käfigen, die sie aus Bambussplinten zusammenbanden. Manche steckten Skorpione hinein, aber meistens waren es Insekten. Kakerlaken, Heuschrecken und dergleichen. Sie fütterten sie,
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