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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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denen der Leichnam bedeckt war.
    »Noch ganz jung«, sagte Bagrezow.
    Mit Mühe zerrten sie die Leiche zu zweit an den Beinen heraus.
    »Ist der schwer«, sagte Glebow keuchend.
    »Wenn er nicht so schwer wäre«, sagte Bagrezow, »hätten sie ihn so beerdigt wie uns, dann hätten wir gar nicht herkommen brauchen.«
    Sie bogen dem Toten die Arme gerade und zogen ihm das Hemd aus.
    »Nagelneue Unterhosen«, sagte Bagrezow zufrieden.
    Sie zogen ihm auch die Unterhosen aus. Glebow schob sich das Wäscheknäuel unter die Jacke.
    »Zieh sie lieber an«, sagte Bagrezow.
    »Nein, ich mag nicht«, murmelte Glebow.
    Sie legten den Toten zurück ins Grab und bedeckten ihn mit Steinen.
    Das blaue Licht des aufgestiegenen Mondes legte sich auf die Steine und auf den schütteren Tajgawald und zeigte jeden Absatz, jeden Baum in einer besonderen, nicht seiner Tagesgestalt. Alles schien auf seine Art real, aber anders als am Tag. Es war wie ein zweites, das nächtliche Gesicht der Welt.
    Die Wäsche des Toten wurde an Glebows Körper warm und schien schon nicht mehr fremd.
    »Jetzt eine Zigarette«, sagte Glebow träumerisch.
    »Morgen bekommst du deine Zigarette.«
    Bagrezow lächelte. Morgen werden sie die Wäsche verkaufen, Brot dafür eintauschen, und vielleicht sogar ein bißchen Tabak...
    1954

Zimmerleute
    Tag und Nacht herrschte weißer Nebel von solcher Dichte, daß ein Mensch auf zwei Schritt nicht zu sehen war. Weit mußte man übrigens alleine nicht laufen. Die wenigen Richtungen – Kantine, Krankenhaus, Wache – fand man mit unbekannt wo erworbenem Instinkt, ähnlich jenem Richtungssinn, den Tiere in vollem Maße besitzen und der unter den entsprechenden Umständen auch im Menschen erwacht.
    Ein Thermometer bekamen die Arbeiter nicht zu sehen, und das war auch nicht nötig, zur Arbeit ausrücken mußten sie bei jeder Temperatur. Außerdem konnten Alteingesessene den Frost auch ohne Thermometer fast exakt bestimmen: wenn Frostnebel herrscht, dann sind es draußen minus vierzig Grad; wenn die Luft beim Atmen mit Geräusch ausfährt, doch das Atmen noch nicht schwer wird, sind es fünfundvierzig; wenn das Atmen ein Geräusch macht und Kurzatmigkeit dazukommt, sind es fünfzig Grad. Bei über fünfzig Grad — gefriert die Spucke in der Luft. Die Spucke gefror in der Luft schon seit zwei Wochen
    Jeden Morgen wachte Potaschnikow mit der Hoffnung auf — ob der Frost nachgelassen hat? Aus der Erfahrung des letzten Winters wußte er, daß es, auch bei niedrigsten Temperaturen, für das Empfinden von Wärme auf eine deutliche Veränderung ankommt, einen Kontrast. Auch wenn der Frost nur auf vierzig, auf fünfundvierzig Grad zurückgeht, ist es zwei Tage warm, und für mehr als zwei Tage Pläne zu machen hatte keinen Sinn.
    Doch der Frost ging nicht zurück, und Potaschnikow begriff, daß er ihn nicht länger ertragen konnte. Das Frühstück hielt allerhöchstens für eine Stunde Arbeit vor, dann kam die Müdigkeit, und der Frost ging durch Mark und Bein — dieser redensartliche Ausdruck war keineswegs eine Metapher. Man konnte nur sein Werkzeug schwenken und von einem Fuß auf den anderen hüpfen, um bis zum Mittagessen nicht zu erfrieren. Das heiße Mittagessen, die berüchtigte »Brühe« und zwei Löffel Grütze, stärkte die Kräfte nur wenig, doch wärmte immerhin. Und wieder reichte die Kraft für eine Stunde Arbeit, und dann packte Potaschnikow der Wunsch, sich entweder zu wärmen oder sich einfach auf die spitzen gefrorenen Steine zu legen und zu sterben. Der Tag ging dennoch zu Ende, und nach dem Abendessen, nach reichlich Wasser zum Brot, das kein einziger Arbeiter in der Kantine zur Suppe aß, sondern mitnahm in die Baracke, legte sich Potaschnikow sofort schlafen.
    Er schlief natürlich auf der oberen Pritsche, unten war ein Eiskeller, und die ihre Plätze unten hatten, standen die halbe Nacht am Ofen und umarmten ihn abwechselnd — der Ofen war ein wenig warm. Das Holz reichte nie: zum Holzsammeln mußte man nach der Arbeit vier Kilometer weit laufen, und alle entzogen sich dieser Verpflichtung auf jede Weise. Oben war es wärmer, obwohl man natürlich in den Sachen schlief, in denen man auch arbeitete — in Mütze, Weste, Steppjacke, Wattehosen. Oben war es wärmer, doch auch dort froren die Haare über Nacht am Kissen fest.
    Potaschnikow spürte, wie seine Kräfte mit jedem Tag abnahmen. Er war erst dreißig, und ihm fiel es schon schwer, auf die obere Pritsche zu klettern, fiel es schwer, hinunterzusteigen.

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