Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Geld«, sagte Serafim.
»Genau, ›hattest‹ du.«
Serafim freute sich und schwieg. Er hatte zweitausend Rubel auf die Fahrt mitgenommen, und dieses Geld war Gott sei Dank beschlagnahmt und lag bei den Bewachern. Alles würde sich bald aufklären, man würde Serafim freilassen und ihm das Geld zurückgeben. Serafim wurde heiterer.
Dann muß ich der Wache einen Hunderter geben, dachte er, fürs Aufbewahren. Aber übrigens, wofür eigentlich? Für die Prügel vielleicht?
In der engen fensterlosen Hütte, wo Luft allein durch die Eingangstür und die eisbewachsenen Ritzen in der Wand hereinkam, lagen etwa zwanzig Mann direkt auf der Erde.
Serafim bekam Hunger, und er fragte seinen Nachbarn, wann das Abendessen kommt.
»Du bist gut, bist du wirklich ein Freier? Morgen kriegst du zu essen. Wir sind ja auf Staatsverpflegung: ein Becher Wasser und die Ration — einmal dreihundert pro Tag. Und sieben Kilo Holz.«
Serafim wurde nirgendwo hingerufen, und er verbrachte ganze fünf Tage hier. Den ersten Tag schrie er und trommelte an die Tür, doch nachdem der Wachdienst ihm mit dem Gewehrkolben eins vors Hirn geschlagen hatte, hörte er auf, sich zu beschweren. Anstelle der verlorenen Mütze hatte Serafim irgendein Stoffknäuel bekommen, das er sich mühsam auf den Kopf zog.
Am sechsten Tag rief man ihn ins Kontor, wo am Tisch derselbe Chef saß, der ihn empfangen hatte, und an der Wand stand der Laborleiter, höchst verärgert über Serafims Arbeitsversäumnis und den Zeitverlust durch die Fahrt zur Identifizierung des Laboranten.
Bei Serafims Anblick zuckte Presnjakow leicht zusammen: unter dem rechten Auge ein blauer Bluterguß, auf dem Kopf eine zerrissene, schmutzige Stoffmütze ohne Bänder. Serafim trug eine zu enge zerfetzte Weste ohne Knöpfe – den Pelz hatte er im Karzer zurücklassen müssen –, er war stoppelbärtig und schmutzig, seine Augen rot entzündet. Er hinterließ einen starken Eindruck.
»Ja«, sagte Presnjakow, »er ist es. Können wir gehen?«, und der Laborleiter zog Serafim zum Ausgang.
»Und d-das Geld?«, brüllte Serafim, er sträubte sich und schob Presnjakow weg.
»Was für Geld?«, klirrte metallisch die Stimme des Chefs.
»Zweitausend Rubel. Ich hatte sie bei mir.«
»Sehen Sie«, lachte der Chef und schubste Presnjakow in die Seite. »Ich habe es Ihnen ja erzählt. Betrunken, ohne Mütze...«
Serafim trat über die Schwelle ins Freie und sagte bis zu Hause kein Wort.
Nach diesem Vorfall begann Serafim an Selbstmord zu denken. Er fragte sogar einen der Ingenieure, warum dieser, als Häftling, nicht Selbstmord begehe.
Der Ingenieur war verblüfft, Serafim hatte das ganze Jahr nicht zwei Worte mit ihm gewechselt. Er schwieg und versuchte Serafim zu verstehen.
»Wie machen Sie das? Wie leben Sie denn?«, flüsterte Serafim beschwörend.
»Es stimmt, das Leben eines Häftlings ist eine einzige Kette von Erniedrigungen, von dem Moment an, wo er die Augen und Ohren aufmacht, und bis zum Beginn des wohltätigen Schlafs. Ja, das ist alles wahr, doch man gewöhnt sich an alles. Auch hier gibt es bessere und schlechtere Tage, Tage der Hoffnungslosigkeit wechseln ab mit Tagen der Hoffnung. Der Mensch lebt nicht, weil er an etwas glaubt, weil er auf etwas hofft. Der Lebensinstinkt bewahrt ihn, wie er jedes Tier bewahrt. Und auch jeder Baum, jeder Stein könnte dasselbe sagen. Hüten Sie sich, wenn Sie in sich selbst um Ihr Leben kämpfen müssen, wenn Ihre Nerven gespannt und entzündet sind, hüten Sie sich, Ihr Herz und Ihren Verstand von einer unerwarteten Seite angreifen zu lassen. Wenn Sie Ihre verbliebenen Kräfte gegen etwas stemmen, hüten Sie sich vor einem Schlag von hinten. Für einen neuen, ungewohnten Kampf sind Ihre Kräfte vielleicht zu schwach. Jeder Selbstmord ist auf alle Fälle Resultat einer zweifachen Einwirkung, mindestens zweier Gründe. Haben Sie mich verstanden?«
Serafim hatte verstanden.
Jetzt saß er im eingeräucherten Labor, und an seinen Ausflug dachte er aus irgendeinem Grund mit einem Gefühl der Scham und dem Gefühl einer schweren Verantwortung, die er für immer zu tragen hatte. Er wollte nicht leben.
Der Brief lag noch immer auf dem schwarzen Labortisch, und er hatte Angst, ihn in die Hand zu nehmen.
Serafim stellte sich seine Zeilen vor, die Handschrift seiner Frau, eine linksgeneigte Schrift: an dieser Schrift konnte man ihr Alter erraten — in den zwanziger Jahren wurde an den Schulen nicht gelehrt, mit Rechtsneigung zu schreiben, jeder
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