Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Der erfahrene alte Arzt öffnete Serafim mit einem Spatel die Zähne, schaute in den Rachen und rief den Chirurgen.
Die Operation wurde sofort durchgeführt, doch zu spät. Magenwände und Speiseröhre waren von der Säure zerfressen — Serafims erste Rechnung war vollkommen richtig gewesen.
1959
Der freie Tag
Zwei himmelblaue Eichhörnchen, schwarze Schnäuzchen, schwarze Schwänze, betrachteten interessiert, was hinter den silbernen Lärchen passierte. Ich ging zu dem Baum, auf dessen Zweigen sie saßen, bis ganz dicht heran, und da erst bemerkten mich die Eichhörnchen. Die Eichhörnchenkrallen kratzten auf der Baumrinde, die blauen Körper der Tierchen flitzten in die Höhe und blieben irgendwo hoch, hoch oben still. Das Rieseln von Rindenbröckchen auf den Schnee hörte auf. Und ich sah, was die Eichhörnchen betrachtet hatten.
Auf einer Waldwiese betete ein Mensch. Seine Stoffmütze mit Ohrenklappen lag als Knäuel neben seinen Füßen, der Reif hatte den geschorenen Kopf schon bedeckt. Auf seinem Gesicht lag ein ungewöhnlicher Ausdruck — so wie auf den Gesichtern von Menschen, die sich an ihre Kindheit oder etwas ebenso Teures erinnern. Der Mann bekreuzigte sich ausladend und schnell: mit den drei zusammengelegten Fingern der rechten Hand schien er den eigenen Kopf nach unten zu ziehen. Ich erkannte ihn nicht sofort — soviel Neues war in seinen Zügen. Das war der Häftling Samjatin, ein Geistlicher aus derselben Baracke wie ich.
Noch immer ohne mich zu sehen, sprach er leise und feierlich mit vor Kälte starren Lippen die gewohnten, mir seit der Kindheit vertrauten Worte. Das waren die slawischen Formeln des liturgischen Gottesdienstes — Samjatin las eine Messe im silbernen Wald.
Er bekreuzigte sich langsam, richtete sich auf und sah mich. Das Feierliche und die Rührung waren aus seinem Gesicht verschwunden, und die gewohnten Falten auf der Nasenwurzel zogen seine Brauen zusammen. Samjatin mochte keinen Spott. Er nahm die Mütze auf, schüttelte sie und setzte sie auf.
»Sie haben eine Liturgie gelesen«, fing ich an.
»Nein, nein«, sagte Samjatin, lächelnd über meine Unwissenheit. »Wie kann ich eine Messe lesen? Ich habe ja weder Gaben noch Stola. Das ist ein staatliches Handtuch.«
Und er rückte den schmutzigen Lappen mit Waffelmuster zurecht, der um seinen Hals hing und tatsächlich einer Priesterstola glich. Der Frost hatte das Handtuch mit Schneekristallen bedeckt, und die Kristalle funkelten in der Sonne regenbogenfarben wie ein liturgischer Brokatstoff.
»Außerdem ist mir peinlich, daß ich nicht weiß, wo Osten ist. Die Sonne geht jetzt für zwei Stunden auf und hinter demselben Berg wieder unter, hinter dem sie aufgegangen ist. Wo ist also Osten?«
»Ist denn der Osten so wichtig?«
»Natürlich nicht. Gehen Sie nicht weg. Ich sage Ihnen ja, ich lese keine Messe und kann das auch gar nicht. Ich wiederhole, besinne mich einfach auf die Sonntagsmesse. Ich weiß auch nicht, ist heute Sonntag?«
»Donnerstag«, sagte ich. »Das hat der Aufseher am Morgen gesagt.«
»Sehen Sie, Donnerstag. Nein, nein, das ist keine Messe. Mir ist so einfach leichter. Und ich habe weniger Hunger«, lächelte Samjatin.
Ich weiß, jeder Mensch hatte hier ein
Allerletztes
, sein Allerwichtigstes — etwas, das ihm half, zu leben, sich ans Leben zu klammern, das sie uns so beharrlich und hartnäkkig zu nehmen suchten. Wenn für Samjatin dieses Letzte die Liturgie des Johannes Chrysostomos war, so waren mein rettendes Letztes die Gedichte — fremde Gedichte, die ich liebte und an die ich mich erstaunlicherweise erinnerte, wo alles andere längst vergessen, aus dem Gedächtnis gestrichen, vertrieben war. Das einzige, was die Müdigkeit, der Frost, der Hunger und die unendlichen Erniedrigungen noch nicht erdrückt hatten.
Die Sonne war untergegangen. Der Nebel des frühen Winterabends füllte rasch den Raum zwischen den Bäumen. Ich lief langsam zur Baracke, in der wir wohnten — eine niedrige langgezogene Hütte mit kleinen Fenstern, einem winzigen Pferdestall ähnlich. Als ich mit beiden Händen die schwere, eisbedeckte Tür packte, hörte ich Rascheln in der benachbarten Hütte. Dort war die »Kammer« — der Lagerraum, wo das Werkzeug aufbewahrt wurde: die Sägen, Schaufeln, Äxte, Brechstangen und Hacken der Bergarbeiter.
An freien Tagen war die Werkzeugkammer verschlossen, jetzt aber fehlte das Schloß. Ich trat über die Schwelle der Kammer, und die schwere Tür hätte mich fast
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