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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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auf die Straße. Die Hausbewohner stürzten ihm nach. Jemand schoß hinter ihm her, jemand brüllte tierisch, aber Waska rannte, ohne etwas zu sehen. Und nach ein paar Minuten merkte er, daß seine Beine ihn von selbst in das einzige staatliche Haus getragen hatten, das er in der Siedlung kannte — in die Verwaltung der Vitamin-Lageraußenstellen, wo Waska auch als Krummholz-Pflücker gearbeitet hatte.
    Die Verfolger waren nah. Waska lief die Außentreppe hinauf, stieß den Diensthabenden beiseite und sauste durch den Korridor. Die Menge der Verfolger polterte hinter ihm her. Waska stürzte ins Kabinett des Verantwortlichen für Kulturarbeit und sprang durch die andere Tür wieder hinaus, in die Rote Ecke . Von hier ging es nicht mehr weiter. Waska merkte erst jetzt, daß er die Mütze verloren hatte. Das gefrorene Ferkel hielt er noch immer im Arm. Waska legte das Ferkel auf den Boden, schob die schweren Holzbänke zusammen und verbarrikadierte damit die Tür. Das Rednerpult zerrte er auch dorthin. Jemand rüttelte an der Tür, dann war es still.
    Da setzte sich Waska auf den Boden, nahm das Ferkel in beide Hände, das rohe, gefrorene Ferkel, und nagte und nagte...
    Bis ein Schützentrupp gerufen und die Tür geöffnet und die Barrikade auseinandergenommen war, hatte Waska das halbe Ferkel gegessen...
    1958

Serafim
    Der Brief lag auf dem rußschwarzen Tisch wie eine Eisscholle. Die Türchen des eisernen Kanonenofens standen offen, die Steinkohle glühte wie Preiselbeerkonfitüre im Glas, und die Eisscholle hätte tauen sollen, dünner werden, verschwinden. Doch die Eisscholle taute nicht, und Serafim erschrak, als er begriff, daß die Eisscholle ein Brief war, und zwar ein Brief an ihn, Serafim. Serafim fürchtete sich vor Briefen, besonders den kostenlosen, mit den staatlichen Stempeln. Er war auf dem Dorf aufgewachsen, wo bis heute ein eintreffendes oder abgeschicktes, »gedrahtetes« Telegramm von einem tragischen Ereignis spricht: von einem Begräbnis, vom Tod, von schwerer Krankheit...
    Der Brief lag mit der Vorder-, der Adreßseite, nach unten auf Serafims Tisch; während er den Schal loswickelte und den vom Frost steifen Schafspelz aufknöpfte, schaute Serafim auf den Umschlag, ohne die Augen abzuwenden.
    Da ist er zwölftausend Werst gefahren, über hohe Berge und blaue Meere, mit dem Wunsch, alles zu vergessen und alles zu verzeihen, und die Vergangenheit läßt ihn einfach nicht in Ruhe. Es ist ein Brief gekommen von hinter den Bergen, ein Brief aus jener, noch nicht vergessenen Welt. Man hat den Brief mit dem Zug, dem Flugzeug, dem Dampfer, dem Lastwagen und auf Rentieren bis in jene Siedlung gebracht, wo Serafim sich versteckt hält.
    Und jetzt liegt der Brief hier, in dem kleinen chemischen Labor, in dem Serafim als Laborant arbeitet.
    Die Balkenwände, die Decke, die Schränke des Labors sind schwarz nicht von der Zeit, sondern vom Heizen der Öfen rund um die Uhr, und im Inneren wirkt das Haus wie eine alte Hütte. Die quadratischen Fenster des Labors ähneln den Glimmerfensterchen der petrinischen Zeit. Im Bergwerk geht man sparsam um mit Glas, und die Fensterflügel haben kleine Gittermuster: damit jede Glasscherbe und notfalls auch eine zerschlagene Flasche Verwendung findet. Die gelbe Elektrobirne mit Schirm hing von einem Holzbalken wie ein Selbstmörder. Ihr Licht war mal trüb, mal glühte es auf, anstelle von Motoren setzte man im Elektrizitätswerk Traktoren ein.
    Serafim hatte den Mantel ausgezogen und saß am Ofen, noch immer ohne den Umschlag anzurühren. Er war allein im Labor.
    Vor einem Jahr, als das geschah, was man ein »eheliches Zerwürfnis« nennt, wollte er nicht aufgeben. Er ging nicht in den Hohen Norden, weil er ein Romantiker war oder ein Mensch der Pflicht. Das große Geld interessierte ihn auch nicht. Aber Serafim fand, und dabei stützte er sich auf das Urteil Tausender Philosophen und eines Dutzends seiner Bekannten, daß die Trennung die Liebe davontrage und daß Kilometer und Jahre jedes Unglück bewältigen.
    Ein Jahr war vergangen, und in Serafims Herzen war alles beim alten geblieben, und im geheimen wunderte er sich über die Beständigkeit seines Gefühls. Ob es daher kam, daß er nicht mehr mit Frauen sprach? Es gab einfach keine. Es gab die Gattinnen der hochrangigen Chefs — eine dem Laboranten Serafim außerordentlich ferne gesellschaftliche Klasse. Jede wohlbeleibte Dame hielt sich für eine Schönheit, und solche Damen lebten in den Siedlungen, wo es mehr

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