Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
schrieb, wie er wollte.
Serafim stellte sich die Zeilen des Briefs vor, als läse er ihn, ohne den Umschlag aufzureißen. Der Brief konnte anfangen: »Mein Lieber«, »Lieber Sima« oder »Serafim«. Vor dem letzten hatte er Angst.
Und was, wenn er hinginge und den Umschlag, ohne zu lesen, in kleine Fetzen reißen und ins rubinrote Ofenfeuer werfen würde? Die ganze Versuchung wäre vorbei, und er würde wieder ruhiger atmen — wenigstens bis zum nächsten Brief. Aber schließlich war er doch kein solcher Feigling! Er war überhaupt kein Feigling, der Ingenieur war ein Feigling, und er würde es ihm zeigen. Er wird es allen zeigen.
Und Serafim nahm den Brief und drehte ihn mit der Adresse nach oben. Er hatte richtig vermutet — der Brief war aus Moskau, von seiner Frau. Grimmig riß er den Umschlag auf, stellte sich unter die Lampe und las den Brief im Stehen. Seine Frau schrieb ihm von Scheidung.
Serafim warf den Brief in den Ofen, eine weiße Flamme mit blauem Rand umfing ihn, und er war verschwunden.
Jetzt handelte Serafim sicher und ruhig. Er zog die Schlüssel aus der Tasche und öffnete den Schrank in Presnjakows Zimmer. Aus einem Konservenglas schüttete er eine Prise graues Pulver in ein Meßgläschen, schöpfte mit dem Becher Wasser aus dem Eimer, füllte das Meßgläschen auf, mischte es durch und trank.
Ein Brennen in der Kehle, leichter Brechreiz — das war alles.
Ganze dreißig Minuten saß er und schaute auf die Wanduhr, ohne an irgend etwas zu denken. Keinerlei Wirkung, außer dem Schmerz im Hals. Da hatte es Serafim plötzlich eilig. Er zog die Schublade auf und nahm sein Federmesser. Dann schnitt sich Serafim am linken Arm die Vene auf: dunkles Blut floß auf den Boden. Serafim spürte ein freudiges Gefühl der Schwäche. Doch das Blut floß immer dünner, immer langsamer.
Serafim begriff, daß es mit dem Blut nicht klappen, daß er am Leben bleiben, daß die Selbstverteidigung seines Körpers stärker sein würde als der Wunsch zu sterben. Und sofort fiel ihm ein, was er tun mußte. Flüchtig, mit einem Ärmel, zog er den Halbpelz über – ohne Halbpelz war es draußen zu kalt – und lief ohne Mütze, mit hochgestelltem Kragen, zum Flüßchen, das hundert Schritt vom Labor floß. Es war ein Bergflüßchen mit schmalen tiefen Rinnen, die in der dunklen Frostluft wie kochendes Wasser dampften.
Serafim erinnerte sich, wie im letzten Jahr im Spätherbst der erste Schnee fiel und der Fluß sich mit feinem Eis bedeckte. Eine Ente, vom Vogelzug übriggeblieben und entkräftet vom Kampf mit dem Schnee, hatte sich auf das junge Eis gesetzt. Serafim erinnerte sich, wie ein Mann, ein Häftling, aufs Eis lief und, die Arme komisch gespreizt, versuchte, die Ente zu fangen. Die Ente rannte über das Eis bis zu einer Rinne, tauchte unter das Eis und tauchte aus dem nächsten Loch wieder auf. Der Mann rannte und verfluchte den Vogel; er quälte sich genauso wie die Ente und rannte weiter von Rinne zu Rinne hinter ihr her. Zweimal brach er ein und strampelte sich lange und unter schmutzigen Flüchen zurück auf eine Eisscholle.
Rundum standen viele Menschen, doch kein einziger half der Ente oder dem Jäger. Es war seine Beute, sein Fund, und für Hilfe mußte man zahlen, teilen... Der erschöpfte Mann kroch über das Eis und verfluchte die ganze Welt. Alles endete damit, daß die Ente untertauchte und nicht wieder auftauchte — wahrscheinlich war sie vor Müdigkeit ertrunken.
Serafim erinnerte sich, wie er damals versuchte, sich den Tod der Ente vorzustellen, wie sie im Wasser mit dem Kopf ans Eis schlägt und durch das Eis den blauen Himmel sieht. Jetzt lief Serafim zu genau dieser Stelle am Fluß.
Er sprang direkt ins eisige dampfende Wasser, ein Stück schneebedeckte Kante des blauen Eises brach ab. Das Wasser reichte ihm bis zum Gürtel, doch die Strömung war stark, und Serafim wurde umgerissen. Er warf den Halbpelz ab, nahm die Hände zusammen und zwang sich, unter das Eis zu tauchen.
Doch ringsum schrien und rannten schon Leute, sie schleppten Bretter herbei und legten sie quer über die Rinne. Jemand packte Serafim an den Haaren.
Sie trugen ihn direkt ins Krankenhaus. Zogen ihn aus, wärmten ihn und versuchten, ihm warmen süßen Tee einzuflößen. Serafim schwieg und schüttelte den Kopf.
Der Krankenhausarzt trat zu ihm mit einer Spritze mit Glukoselösung, doch er sah die zerfetzte Vene und schaute Serafim ins Gesicht.
Serafim lächelte. Die Glukose wurde in den rechten Arm gespritzt.
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