Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Zerstreuungen gab und die Kavaliere, die ihre Reize zu würdigen wußten, reicher waren. Außerdem lebten in den Siedlungen viele Militärs: hier drohte der Dame nicht die Massenvergewaltigung durch eine Horde Chauffeure oder durch kriminelle Häftlinge — auf den Straßen oder in den kleinen Abschnitten geschah so etwas immer wieder.
Darum ließen die geologischen Schürfer und Lagerchefs ihre Gattinnen in den großen Siedlungen, wo sich die Maniküren ein ganzes Vermögen verdienten.
Doch die Sache hatte auch eine andere Seite — die »körperliche Sehnsucht« erwies sich als längst nicht so schlimm, wie Serafim in seiner Jugend dachte. Man durfte einfach nicht so viel daran denken.
In der Grube arbeiteten Häftlinge, und im Sommer hatte Serafim viele Male von der Außentreppe den grauen Reihen von Arrestanten zugeschaut, wie sie in den Hauptstollen krochen und nach der Schicht wieder herauskrochen.
Im Labor arbeiteten zwei Ingenieure, Häftlinge, sie wurden von einem Begleitposten gebracht und geholt, und Serafim hatte Angst, sie anzusprechen. Sie fragten ihn nur Dienstliches, nach dem Ergebnis einer Analyse oder Probe, und er antwortete ihnen und schaute dabei zur Seite. Man hatte Serafim in dieser Hinsicht schon in Moskau beim Anheuern für den Hohen Norden eingeschüchtert, man hatte ihm gesagt, dort seien gefährliche Staatsverbrecher, und Serafim traute sich nicht einmal, seinen Arbeitskollegen ein Stück Zucker oder eine Scheibe Weißbrot mitzubringen. Er wurde übrigens überwacht vom Laborchef Presnjakow, einem Komsomolzen, dem sein außerordentlich hohes Gehalt und der hohe Dienstrang gleich nach Abschluß der Hochschule zu Kopf gestiegen waren. Als seine wichtigste Verpflichtung betrachtete er die politische Kontrolle seiner Mitarbeiter, der Häftlinge wie auch der Freien (vielleicht wurde tatsächlich nur das von ihm verlangt).
Serafim war älter als sein Chef, doch er erfüllte gehorsam jede seiner Anordnungen hinsichtlich der berüchtigten Wachsamkeit und Umsicht .
In dem Jahr hatte er mit den gefangenen Ingenieuren nicht mal ein Dutzend Worte zu dienstfremden Themen gewechselt.
Mit dem Gehilfen aber und dem Nachtwächter sprach Serafim überhaupt nicht.
Alle sechs Monate erhöhte sich das Gehalt der Vertragsarbeiter im Norden um zehn Prozent. Nach dem zweiten Aufschlag hatte Serafim um Genehmigung für einen Ausflug in die Nachbarsiedlung gebeten, nur hundert Kilometer — um Einkäufe zu machen, ins Kino zu gehen, in einer echten Kantine zu essen, »Frauen anzuschauen« und sich beim Friseur rasieren zu lassen.
Serafim kletterte in den Wagenkasten, stellte den Kragen hoch, wickelte sich ordentlich ein, und der Lastwagen brauste los.
Nach etwa anderthalb Stunden hielt der Laster an einem Häuschen. Serafim stieg aus und blinzelte im grellen Frühlingslicht.
Zwei Männer mit Gewehren standen vor Serafim.
»Die Papiere!«
Serafim griff in die Jackettasche und erstarrte — er hatte den Paß zu Hause vergessen. Und ausgerechnet jetzt hatte er kein einziges Papier, das seine Person hätte ausweisen können. Nichts außer einer Luftanalyse aus dem Schacht. Man befahl Serafim, in die Hütte zu treten.
Der Laster war schon gefahren.
Der unrasierte, kahlgeschorene Serafim weckte beim Chef keineswegs Vertrauen.
»Von wo bist du geflüchtet?«
»Von nirgendwo...«
Eine unerwartete Ohrfeige haute Serafim um.
»Antworte, wie es sich gehört!«
»Ich werde mich beschweren!«, schrie Serafim.
»Ach, du wirst dich beschweren? He, Semjon!«
Semjon zielte und trat mit einer routinierten und geschickten Bewegung in Serafims Sonnengeflecht.
Serafim stöhnte auf und verlor das Bewußtsein.
Trübe erinnerte er sich, daß sie ihn einfach auf der Straße irgendwohin schleiften, er verlor seine Mütze. Ein Schloß klapperte, eine Tür quietschte, und die Soldaten warfen Serafim in einen stinkenden, aber warmen Schuppen.
Nach ein paar Stunden kam Serafim wieder zu sich und begriff, daß er in einer Isolationszelle war, in die alle Häftlinge der Siedlung, Flüchtlinge und Strafsoldaten, gesteckt wurden.
»Hast du Tabak?«, fragte jemand aus dem Dunklen.
»Nein, ich rauche nicht«, sagte Serafim schuldbewußt.
»So ein Trottel. Hat er irgendwas?«
»Nein, nichts. Was bleibt denn nach diesen Geiern übrig?«
Serafim begriff mit größter Anstrengung, daß es um ihn ging und mit den »Geiern« offensichtlich die Begleitposten gemeint waren, wegen ihrer Gier und Allesfresserei.
»Ich hatte
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