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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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und dieses Gefühl war Andrej Michajlowitsch bekannt.
    In der Nacht wurde ich vom Sanitäter geweckt. Das Zimmer war voll vom gewöhnlichen nächtlichen Krankenhauslärm: Röcheln, Schnarchen, Stöhnen, Irrereden, Husten — alles mischte sich zu einer eigentümlichen Lautsinfonie, falls man aus solchen Lauten eine Sinfonie komponieren kann. Und wenn man mich mit geschlossenen Augen an einen solchen Ort führt — erkenne ich das Lagerkrankenhaus.
    Auf dem Fensterbrett stand eine Lampe – ein Blechschälchen mit irgendeinem Öl – nur kein Lebertran! — und einem rauchenden, aus Watte gedrehten Docht. Wahrscheinlich war es noch nicht sehr spät, unsere Nacht begann mit dem Signal, um neun Uhr abends, und wir schliefen praktisch sofort ein, sobald die Füße warm waren.
    »Andrej Michajlowitsch läßt dich rufen«, sagte der Sanitäter. »Und Koslik begleitet dich.«
    Der Koslik genannte Kranke stand vor mir.
    Ich ging ans blecherne Handwaschbecken, wusch mich und trocknete mir, im Zimmer zurück, Gesicht und Hände am Kissenbezug ab. Das riesige Handtuch aus dem Bezugsstoff einer alten gestreiften Matratze wurde von allen dreißig Personen im Saal benutzt und nur am Morgen ausgegeben. Andrej Michajlowitsch wohnte im Krankenhaus, in einem kleinen Zimmer am äußersten Ende — in solche Zimmer wurden die postoperativen Kranken gelegt. Ich klopfte an und trat ein.
    Auf dem Tisch lagen Bücher, beiseite geschoben, Bücher, die ich so viele Jahre nicht in den Händen hatte. Die Bücher waren fremd, unfreundlich, überflüssig. Neben den Büchern stand eine Teekanne, zwei Blechbecher und eine volle Schüssel mit irgendeiner Grütze...
    »Hätten Sie Lust auf eine Partie Domino?«, sagte Andrej Michajlowitsch und sah mich freundlich an. »Wenn Sie Zeit haben.«
    Ich hasse Domino. Es ist das dümmste, sinnloseste, langweiligste Spiel. Selbst Lotto ist interessanter, ganz zu schweigen von Karten, jedem Kartenspiel. Am besten wäre Schach, oder wenigstens Dame — ich schielte auf den Schrank, ob ein Schachbrett zu sehen ist, doch es war keins da. Aber ich darf doch Andrej Michajlowitsch durch meine Weigerung nicht kränken. Ich muß ihn unterhalten, muß Gutes mit Gutem vergelten. Ich habe niemals im Leben Domino gespielt, doch ich bin überzeugt, daß es für die Beherrschung dieser Kunst keine große Weisheit braucht.
    Und dann — auf dem Tisch standen zwei Becher Tee und eine Schüssel Grütze. Und es war warm.
    »Trinken wir Tee«, sagte Andrej Michajlowitsch. »Hier ist Zucker. Greifen Sie zu. Essen Sie diese Grütze und erzählen Sie — wovon Sie wollen. Übrigens, diese beiden Dinge kann man nicht gleichzeitig tun.«
    Ich aß die Grütze mit Brot und trank drei Becher Tee mit Zucker. Zucker hatte ich einige Jahre nicht gesehen. Mir war warm geworden, und Andrej Michajlowitsch mischte die Dominosteine.
    Ich wußte, wer einen doppelten Sechser hat, fängt an, und das war Andrej Michajlowitsch. Dann bauen die Spieler der Reihe nach Steine mit passender Augenzahl an. Das war kein großes Kunststück, und ich ging kühn ans Spiel, unaufhörlich schwitzend und vor Sattheit hicksend.
    Wir spielten auf Andrej Michajlowitschs Bett, und ich sah mit Vergnügen den blendend weißen Bezug auf dem Federkissen an. Das war ein physischer Genuß — ein sauberes Kissen anzuschauen und zu sehen, wie ein anderer es in der Hand drückt.
    »Unserem Spiel«, sagte ich, »fehlt der größte Reiz — die Dominospieler müssen mit Schwung auf den Tisch hauen, wenn sie die Steine ausbringen.« Das war keineswegs ein Scherz. Gerade das schien mir am Domino das wichtigste zu sein.
    »Gehen wir rüber zum Tisch«, sagte Andrej Michajlowitsch liebenswürdig.
    »Nein, nein, ich denke nur an die ganze Vielschichtigkeit dieses Spiels.«
    Die Partie war gemütlich — wir erzählten einander unsere Leben. Andrej Michajlowitsch hatte, als Arzt, nicht bei den allgemeinen Arbeiten in den Goldgruben gearbeitet und die Bergwerkstollen nur indirekt kennengelernt — in jenen menschlichen Abfällen, Auswürfen, Rückständen, die das Bergwerk ins Kranken- und ins Leichenhaus ausspuckte. Auch ich war menschliche Grubenschlacke.
    »So, Sie haben gewonnen«, sagte Andrej Michajlowitsch. »Ich gratuliere Ihnen, und hier ist Ihr Preis.« Er zog ein Plastikzigarettenetui aus dem Nachttisch. »Haben Sie lange nicht geraucht?«
    Ich riß ein Stückchen Zeitung ab und drehte mir eine Machorka-Papirossa. Besseres als Zeitungspapier läßt sich für Machorka nicht

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