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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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ich den Chef der Sanitätsstelle nach Andrej Michajlowitsch.
    »Ja, es gibt so einen Arzt, einen Häftling. Sie brauchen ihn nicht zu sehen.«
    »Ich kenne ihn persönlich.«
    »Viele kennen ihn persönlich.«
    Der Feldscher, der mir in der kleinen Zone den Zettel abgenommen hatte, stand daneben. Ich fragte ihn leise:
    »Wo ist der Zettel?«
    »Nicht im Traum habe ich einen Zettel gesehen...«
    Wenn ich bis übermorgen nichts Neues von Andrej Michajlowitsch höre, dann fahre ich... zu den Straßenarbeiten, in die Landwirtschaft, ins Bergwerk, zum Teufel...
    Am Abend des folgenden Tages, schon nach dem Appell, wurde ich zum Zahnarzt gerufen. Ich ging hin und dachte, das wäre irgendein Fehler, doch im Korridor sah ich den vertrauten Halbpelz von Andrej Michajlowitsch. Wir umarmten uns.
    Nach vier weiteren Tagen wurde ich gerufen — vier Kranke wurden aus dem Lager ins Krankenhaus gebracht. Zwei lagen umarmt auf einem Bauernschlitten, zwei liefen hinter dem Schlitten her. Andrej Michajlowitsch hatte mir meine Diagnose nicht mitteilen können — ich wußte nicht, was ich hatte. Meine Krankheiten – Dystrophie, Pellagra, Skorbut – waren noch nicht bis zur Notwendigkeit der Lagerhospitalisierung fortgeschritten. Ich wußte, ich komme in die Chirurgie. Andrej Michajlowitsch arbeitete dort, doch welche chirurgische Krankheit konnte ich vorweisen — einen Bruch hatte ich nicht. Die Knochenmarksentzündung an vier Zehen nach Erfrierungen — das war quälend, aber keineswegs ausreichend für eine Hospitalisierung. Ich war sicher, daß Andrej Michajlowitsch mir würde Bescheid sagen können, mich irgendwo empfangen würde.
    Die Pferde erreichten das Krankenhaus, die Sanitäter schleppten die Liegenden rein, und wir – mein neuer Kamerad und ich – zogen uns auf einer Bank aus und wuschen uns. Jeder bekam eine Schüssel warmes Wasser.
    Ein alter Arzt im weißen Kittel kam in den Waschraum und schaute uns beide über die Brille hinweg an.
    »Was hast du?«, fragte er und tippte meinem Kameraden an die Schulter.
    Der drehte sich um und zeigte ausdrucksvoll auf einen riesigen Leistenbruch.
    Ich erwartete dieselbe Frage und beschloß, über Bauchschmerzen zu klagen.
    Doch der alte Arzt sah mich gleichgültig an und ging.
    »Wer ist das?«, fragte ich.
    »Nikolaj Iwanowitsch, der Chefchirurg hier. Der Abteilungsleiter.«
    Der Sanitäter gab uns Wäsche aus.
    »Und wohin kommst du?« Das galt mir.
    »Weiß der Henker!« Mir war schon leichter ums Herz, und ich fürchtete mich nicht mehr.
    »Na, welche Krankheit hast du wirklich, sag?«
    »Der Bauch tut mir weh.«
    »Sicher Blinddarmentzündung«, sagte der erfahrene Sanitäter.
    Andrej Michajlowitsch sah ich erst am nächsten Tag. Er hatte den Chefchirurgen von meiner Hospitalisierung mit einer subakuten Blinddarmentzündung informiert. Am Abend desselben Tages erzählte mir Andrej Michajlowitsch seine traurige Geschichte.
    Er war an Tuberkulose erkrankt. Röntgenbilder und Laboranalyse waren bedrohlich. Das Kreiskrankenhaus befürwortete den Transport des Häftlings Andrej Michajlowitsch aufs Festland zur Behandlung. Andrej Michajlowitsch war schon auf dem Dampfer, als jemand dem Chef der Sanitätsabteilung Tscherpakow anzeigte, Andrej Michajlowitschs Erkrankung sei gespielt, vorgetäuscht, eine »Tufta« in der Lagersprache.
    Vielleicht hatte ihn auch niemand angezeigt — Major Tscherpakow war ein würdiger Sohn seines Jahrhunderts der Verdächtigungen, des Mißtrauens und der Wachsamkeit.
    Der Major wurde wütend und befahl, Andrej Michajlowitsch vom Schiff zu holen und in die tiefste Einöde zu verbannen — weitab von jener Verwaltung, wo wir uns begegnet waren. Und Andrej Michajlowitsch war schon tausend Kilometer weit durch den Frost gereist. Doch in der fernen Verwaltung stellte sich heraus, daß es dort keinen einzigen Arzt gab, der einen künstlichen Pneumothorax erzeugen konnte. Einblasungen hatte man Andrej Michajlowitsch schon einige Male gemacht, doch der forsche Major hatte den Pneumothorax zum Betrug und Schwindel erklärt.
    Andrej Michajlowitsch ging es schlechter und schlechter, und er war schon halbtot, ehe man Tscherpakow die Genehmigung abgerungen hatte, Andrej Michajlowitsch in die Westliche Lagerverwaltung zu schicken — die nächste, wo die Ärzte einen Pneumothorax erzeugen konnten.
    Jetzt ging es Andrej Michajlowitsch besser, man hatte mit Erfolg einige Einblasungen vorgenommen, und Andrej Michajlowitsch hatte eine Arbeit als Stationsarzt in der

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