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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Chirurgie angetreten.
    Nachdem ich ein wenig zu Kräften gekommen war, arbeitete ich bei Andrej Michajlowitsch als Sanitäter. Auf seine Empfehlung und sein Drängen fuhr ich zu Feldscherkursen, schloß diese Kurse ab, arbeitete als Feldscher und kehrte aufs Festland zurück. Andrej Michajlowitsch verdanke ich mein Leben. Er selbst ist lange tot — die Tuberkulose und Major Tscherpakow haben ihr Werk getan.
    Im Krankenhaus, wo wir zusammen arbeiteten, lebten wir einträchtig. Unsere Haftzeit endete im selben Jahr, und das verband uns, näherte uns einander gewissermaßen an.
    Einmal, nach dem abendlichen Aufräumen, setzten sich die Sanitäter zum Dominospielen in die Ecke und klapperten mit den Steinen.
    »Ein blödes Spiel«, sagte Andrej Michajlowitsch, wies mit den Augen auf die Sanitäter und runzelte wegen des Steinegeklappers die Stirn.
    »Ich habe ein einziges Mal im Leben Domino gespielt«, sagte ich. »Mit Ihnen, auf Ihre Einladung. Ich habe sogar gewonnen.«
    »Kein Kunststück«, sagte Andrej Michajlowitsch. »Ich habe damals auch das erste Mal Dominosteine in die Hand genommen. Ich wollte Ihnen eine Freude machen.«
    1959

Ein Herkules
    Der letzte verspätete Gast auf der Silberhochzeit des Krankenhauschefs Sudarin war der Arzt Andrej Iwanowitsch Dudar. Auf beiden Händen trug er einen Weidenkorb, in Gaze gewickelt und mit Papierblumen geschmückt. Zum Klingen der Gläser und dem betrunkenen Stimmengewirr der Tafelnden überreichte Andrej Iwanowitsch dem Jubilar den Korb. Sudarin wog den Korb in der Hand.
    »Was ist es?«
    »Sie werden gleich sehen.«
    Man nahm die Gaze ab. Auf dem Boden des Korbs hockte ein großer, rotgefiederter Hahn. Er drehte unbeeindruckt den Kopf und beäugte die geröteten Gesichter der lärmenden betrunkenen Gäste.
    »Ach, Andrej Iwanowitsch, wie gerufen«, zwitscherte die grauhaarige Jubilarsgattin und streichelte den Hahn.
    »Ein zauberhaftes Geschenk«, plapperten die Ärztinnen. »Und so ein schöner. Das ist doch Ihr Liebling, Andrej Iwanowitsch? Nicht wahr?«
    Der Jubilar drückte Dudar gefühlvoll die Hand.
    »Zeigen Sie, zeigen Sie ihn mir«, tönte plötzlich eine heisere dünne Stimme.
    Auf dem Ehrenplatz am Kopf des Tisches, zur Rechten des Hausherrn, saß ein angesehener auswärtiger Gast. Das war Tscherpakow, der Chef der Sanitätsabteilung, ein alter Freund Sudarins, der schon am Morgen im Dienst-»Pobeda« die sechshundert Werst aus der Gebietsstadt zur Silberhochzeit des Freundes angereist war.
    Der Korb mit dem Hahn kam vor die trüben Augen des auswärtigen Gastes.
    »Ja. Ein netter Hahn. Deiner, oder nicht?« Der Finger des Ehrengastes zeigte auf Andrej Iwanowitsch.
    »Jetzt ist es meiner«, meldete lächelnd der Jubilar.
    Der Ehrengast war merklich jünger als die ihn umgebenden kahlen und grauen Neuropathologen, Chirurgen, Internisten und Phtisiologen. Er war um die Vierzig. Ein ungesundes, gelbes, aufgedunsenes Gesicht, kleine graue Äuglein und ein eleganter Uniformrock mit den silbernen Schulterstücken eines Obersts im Sanitätsdienst. Der Rock war dem Oberst deutlich zu eng, und man sah, er war zu einer Zeit geschneidert, als sich das Bäuchlein noch nicht deutlich abzeichnete und der Hals noch nicht auf dem Stehkragen lag. Das Gesicht des Ehrengastes hatte einen gelangweilten Ausdruck, doch mit jedem Gläschen Wodka (als Russe, noch dazu aus dem Norden, nahm der Ehrengast keine anderen Spirituosen zu sich) belebte es sich immer mehr, und der Gast schaute immer öfter die medizinischen Damen an, die ihn umgaben, und mischte sich immer häufiger in die Gespräche ein, die bei Ertönen seines brüchigen Tenors unweigerlich verstummten.
    Als der »Stimmungspegel« die gebührende Höhe erreicht hatte, erhob sich der Ehrengast vom Tisch, wobei er eine Ärztin anstieß, die nicht rechtzeitig ausgewichen war, krempelte die Ärmel hoch und ging daran, die schweren Lärchenstühle zu stemmen, wobei er mit einer Hand ein Vorderbein packte, mal mit der rechten und mal mit der linken, und so das Ebenmaß seiner körperlichen Konstitution demonstrierte.
    Keiner der begeisterten Gäste konnte die Stühle so oft stemmen wie der Ehrengast. Von den Stühlen ging er zu den Sesseln über, und der Erfolg begleitete ihn weiterhin. Während die anderen Stühle stemmten, zog der Ehrengast mit seiner kraftvollen Hand die blutjungen, vor Glück rosigen Ärztinnen zu sich heran und ließ sie seine angespannten Bizepse betasten, was die Ärztinnen mit sichtlicher Begeisterung

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