Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Chirurgen unter, als sie das Krankenzimmer verließen.
Der Chirurg machte seinen Arm frei.
»Vielleicht«, sagte er mit angeekelter Miene. »Gebe Gott Ihnen Erfolg bei der Entlarvung. Sie werden eine Menge Befriedigung erleben.«
Am folgenden Tag trug Pjotr Iwanowitsch auf der Besprechung beim Krankenhauschef ausführlich über Mersljakow vor.
»Ich denke«, sagte er abschließend, »wir werden die Entlarvung Mersljakows in zwei Schritten durchführen. Der erste ist eine Rauschnarkose, an die Sie, Sergej Fjodorowitsch, nicht gedacht haben«, sagte er triumphierend, an den Chirurgen gewandt. »Das hätte man gleich tun müssen. Und sollte auch der Rausch nichts erbringen, dann...« Pjotr Iwanowitsch breitete die Arme aus, »dann eine Schocktherapie. Das ist eine kurzweilige Sache, das versichere ich Ihnen.«
»Geht das nicht zu weit?«, sagte Alexandra Sergejewna, die Leiterin der größten Abteilung des Hauses, der Tuberkulosestation, eine füllige schwere Frau, die vor kurzem vom Festland gekommen war.
»Na«, sagte der Krankenhauschef, »bei einem solchen Aas.« Er war wenig befangen im Beisein von Damen.
»Wir werden sehen, wie die Ergebnisse des Rausches ausfallen«, sagte Pjotr Iwanowitsch vermittelnd.
Die Rauschnarkose ist eine betäubende Äthernarkose von kurzer Wirkung. Der Kranke schläft für fünfzehn, zwanzig Minuten ein, und in dieser Zeit muß der Chirurg es schaffen, eine Verrenkung zu beheben, einen Zeh zu amputieren oder ein schmerzhaftes Geschwür aufzuschneiden.
Die Chefs, in weiße Kittel gekleidet, umringten den Operationstisch im Verbandsraum, auf den sie den folgsamen zusammengekrümmten Mersljakow gelegt hatten. Die Sanitäter griffen nach den Baumwollgurten, mit denen man die Kranken gewöhnlich an den Operationstisch bindet.
»Nicht, nicht!«, schrie Pjotr Iwanowitsch und eilte herbei. »Die Gurte brauchen wir nicht.«
Mersljakows Gesicht wurde nach oben gekehrt. Der Chirurg setzte ihm die Narkosemaske auf und nahm das Ätherfläschchen zur Hand.
»Fangen Sie an, Serjoscha!«
Der Äther begann zu tropfen.
»Tiefer, tiefer atmen, Mersljakow! Laut zählen!«
»Sechsundzwanzig, siebenundzwanzig...«, zählte Mersljakow mit träger Stimme, und dann, das Zählen plötzlich abbrechend, redete er etwas nicht gleich Verständliches, Abgerissenes, mit schmutzigen Flüchen Durchsetztes.
Pjotr Iwanowitsch hielt Mersljakows linke Hand. Nach einigen Minuten erschlaffte die Hand. Pjotr Iwanowitsch ließ sie los. Die Hand fiel weich und tot auf den Rand des Tischs. Langsam und triumphierend streckte Pjotr Iwanowitsch Mersljakows Körper aus. Alle staunten.
»Und jetzt bindet ihn fest«, sagte Pjotr Iwanowitsch den Sanitätern.
Mersljakow schlug die Augen auf und sah die behaarte Faust des Krankenhauschefs.
»Na also, du Schuft«, krächzte der Chef. »Jetzt gehst du vor Gericht.«
»Bravo, Pjotr Iwanowitsch, bravo!«, wiederholte der Kommissionsvorsitzende und klopfte dem Neuropathologen auf die Schulter. »Und ich war gestern schon bereit, diesen Gorilla freizulassen!«
»Macht ihn los!«, kommandierte Pjotr Iwanowitsch. »Steig vom Tisch!«
Mersljakow war noch nicht endgültig wach. In den Schläfen klopfte es, im Mund hatte er den widerlichen, süßen Äthergeschmack. Mersljakow begriff auch jetzt noch nicht, ob er träumte oder wachte, und vielleicht hatte er solche Träume auch früher schon öfter gehabt.
»Schert euch doch alle zum Teufel!«, schrie er plötzlich und nahm wieder seine gekrümmte Haltung ein.
Breitschultrig, knochig, mit den langen, dicken Fingern beinahe den Boden berührend, mit trübem Blick und zerzausten Haaren, wirklich einem Gorilla ähnlich, verließ Mersljakow den Verbandsraum. Pjotr Iwanowitsch wurde gemeldet, der Kranke Mersljakow liege in seiner gewöhnlichen Pose im Bett. Der Arzt befahl, ihn in sein Kabinett zu bringen.
»Du bist entlarvt, Mersljakow«, sagte der Neuropathologe. »Aber ich habe mit dem Chef gesprochen. Du wirst nicht vor Gericht gestellt, nicht in die Strafgrube geschickt, du wirst einfach aus dem Krankenhaus entlassen und kehrst in deine Grube zurück, an deine alte Arbeit. Du bist ein Held, Bruder. Ein ganzes Jahr hast du uns an der Nase herumgeführt.«
»Ich weiß von nichts«, sagte der Gorilla, ohne die Augen zu erheben.
»Was heißt, von nichts? Wir haben dich doch gerade ausgestreckt!«
»Niemand hat mich ausgestreckt.«
»Nun, mein Lieber«, sagte der Neuropathologe. »Jetzt reicht es wirklich. Ich wollte es mit
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