Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
anderen. Mersljakow war von seinem Körperbau wie das Percheron-Pferd Grom, und die kläglichen drei Löffel Grütze zum Frühstück verstärkten nur den ziehenden Schmerz im Magen. Und außer der Ration konnte ein Brigadearbeiter ja fast nichts bekommen. Das Allerwertvollste – Öl und Zucker und Fleisch – kam keineswegs in der Menge in den Kessel, die im Kesselblatt verzeichnet war. Auch etwas anderes hatte Mersljakow gesehen. Als erste starben die hochgewachsenen Menschen. Gewöhnung an schwere Arbeit änderte hieran absolut nichts. Der schmächtige Intellektuelle hielt sich immerhin länger als der Gigant aus Kaluga – der geborene Erdarbeiter –, sofern sie gleich ernährt wurden, entsprechend der Brotration. Von der Erhöhung der Ration nach Ausstoßsätzen hatte man auch wenig, denn der Grundkatalog blieb derselbe, auf hochgewachsene Menschen einfach nicht zugeschnitten. Um besser zu essen, mußte man besser arbeiten, und um besser zu arbeiten, mußte man besser essen. Die Esten, Letten, Litauer starben überall als erste. Sie liefen als erste auf Grund, was die Ärzte immer zu Bemerkungen veranlaßte: dieses ganze Baltikum ist schwächer als das russische Volk. Zwar war der heimische Alltag der Letten und Esten dem Lagerleben ferner als das Leben des russischen Bauern, und sie hatten es schwerer. Die Hauptsache jedoch war etwas anderes: sie waren nicht weniger widerstandskräftig, sie waren einfach größer.
Vor etwa anderthalb Jahren war es Mersljakow gelungen, nach dem Skorbut, der den Neuling schnell umwarf, eine Weile als außerplanmäßiger Sanitäter in der örtlichen Krankenstation zu arbeiten. Dort sah er, daß die Dosis einer Arznei nach dem Gewicht bestimmt wird. Erprobt werden die neuen Arzneien an Kaninchen, Mäusen und Meerschweinchen, und die menschliche Dosis wird durch die Umrechnung auf das Körpergewicht gefunden. Die Kinderdosis ist geringer als die Dosis für Erwachsene.
Doch die Lagerration wurde nicht nach dem Gewicht des menschlichen Körpers berechnet. Und eben das war das Problem, dessen falsche Lösung Mersljakow erstaunte und in Aufregung versetzte. Bevor er jedoch endgültig von Kräften kam, ergatterte er durch ein Wunder eine Beschäftigung als Stallknecht — dort, wo man den Pferden Hafer stehlen und damit den eigenen Magen füllen konnte. Mersljakow dachte schon, er könne hier überwintern — den Rest gibt Gott. Doch es kam anders. Der Leiter des Pferdestützpunkts wurde wegen Trunksucht entfernt, und seine Stelle bekam der oberste Stallknecht — einer von denen, die Mersljakow seinerzeit den Umgang mit der Blechgraupenmühle gezeigt hatten. Der oberste Stallknecht hatte selbst nicht wenig Hafer gestohlen und wußte ganz genau, wie man das macht. Um sich der Leitung zu empfehlen, suchte er, der schon keine Hafergrütze mehr brauchte, alle Graupenmühlen zusammen und vernichtete sie eigenhändig. Jetzt wurde der Hafer im natürlichen Zustand geröstet, gekocht und gegessen und der eigene Magen dem Pferdemagen vollständig gleichgemacht. Der neue Chef schrieb einen Rapport an die Leitung. Einige Stallknechte, darunter auch Mersljakow, wurden wegen Haferdiebstahls in den Karzer geschickt und vom Pferdestützpunkt dorthin versetzt, woher sie gekommen waren — zu den allgemeinen Arbeiten.
Bei den allgemeinen Arbeiten begriff Mersljakow bald, daß der Tod nah war. Er schwankte unter dem Gewicht der Stämme, die er schleppen mußte. Der Vorarbeiter, der eine Abneigung hatte gegen diese faule Stirn (»Stirn« — das bedeutet in der hiesigen Sprache »hochgewachsen«), stellte Mersljakow jedesmal »unter den Fuß« und ließ ihn das Fußstück, das dicke Ende der Stämme tragen. Einmal stürzte Mersljakow, er konnte nicht gleich aus dem Schnee aufstehen und weigerte sich kurzerhand, diesen verdammten Stamm zu schleppen. Es war schon spät, dunkel, auf die Begleitposten wartete die Politschulung, die Arbeiter wollten schnell in die Baracke, zum Essen, der Vorarbeiter würde sich an diesem Abend zur Kartenschlacht verspäten — und schuld an der ganzen Verzögerung war Mersljakow. Und er wurde bestraft. Erst verprügelten ihn die eigenen Kameraden, dann der Vorarbeiter und die Begleitposten. Doch der Holzstamm blieb im Schnee liegen — statt des Stamms trugen sie Mersljakow ins Lager. Er wurde von der Arbeit befreit und lag auf der Pritsche. Das Kreuz tat ihm weh. Der Feldscher rieb Mersljakow den Rücken mit Schmierfett ein — Einreibemittel gab es in der Sanitätsstelle
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