Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
schon lange nicht mehr. Mersljakow lag ständig zusammengekrümmt und klagte hartnäckig über Kreuzschmerzen. Er hatte längst keine Schmerzen mehr, die gebrochene Rippe war sehr schnell zusammengewachsen, und Mersljakow versuchte um den Preis jeder Lüge, die Gesundschreibung hinauszuzögern. Und er wurde auch nicht gesundgeschrieben. Eines Tages zogen sie ihn an, legten ihn auf eine Trage, luden ihn in einen Lastwagen und fuhren ihn gemeinsam mit einem anderen Kranken ins Kreiskrankenhaus. Ein Röntgenkabinett gab es dort nicht. Jetzt mußte er über alles ernsthaft nachdenken, und das tat Mersljakow. Einige Monate lag er dort, ohne sich auszustrecken, und wurde ins Zentralkrankenhaus verlegt, wo es natürlich ein Röntgenkabinett gab und wo man Mersljakow in die Chirurgie brachte, auf die Station für traumatische Erkrankungen, die die Kranken in ihrer Naivität »dramatische Erkrankungen« nannten, ohne über die Bitterkeit dieses Kalauers nachzudenken.
»Ihn hier«, sagte der Chirurg und zeigte auf die Krankengeschichte Mersljakows, »verlegen wir auch zu Ihnen, Pjotr Iwanowitsch, in der Chirurgie können wir ihm nicht helfen.«
»Aber Sie schreiben doch in der Diagnose: Gelenkversteifung infolge eines Wirbelsäulentraumas. Und was soll ich mit ihm?«, sagte der Neuropathologe.
»Nun, Gelenkversteifung, natürlich. Was kann ich denn sonst schreiben? Bei Schlägen passieren ganz andere Dinge. Ich hatte einen Fall im Bergwerk ›Seryj‹. Der Vorarbeiter prügelte auf einen Arbeiter ein...«
»Ich habe keine Zeit, Serjoscha , mir Ihre Fälle anzuhören. Ich frage: Warum überweisen Sie ihn?«
»Ich habe ja geschrieben: Untersuchung zwecks Vermerk in der Akte . Sie setzen ihm Ihre Nadeln, wir machen den Aktenvermerk — und auf den Dampfer. Soll er ein freier Mensch sein.«
»Aber Sie haben doch Aufnahmen gemacht? Die Schäden müssen auch ohne Nadeln sichtbar sein.«
»Ich habe welche gemacht. Bitte sehen Sie.« Der Chirurg hielt ein dunkles Filmnegativ vor den Gazevorhang. »Soll der Teufel etwas erkennen auf so einem Bild. Solange es kein anständiges Licht gibt und keinen anständigen Strom, werden unsere Röntgentechniker immer solche Nebelschleier produzieren.«
»Tatsächlich Nebelschleier«, sagte Pjotr Iwanowitsch. »Gut, meinetwegen.« Und er setzte seinen Namen unter die Krankengeschichte, die Zustimmung zur Verlegung Mersljakows.
In der chirurgischen Abteilung, laut, wirr und mit Erfrierungen, Verrenkungen, Brüchen und Verbrennungen überfüllt — die Gruben des Nordens sind kein Scherz —, in einer Abteilung, wo ein Teil der Kranken direkt auf dem Fußboden der Krankenzimmer und der Korridore lag, wo ein einziger junger, unendlich erschöpfter Chirurg mit vier Feldschern arbeitete: sie alle schliefen drei, vier Stunden am Tag — dort hatte man sich auch mit Mersljakow nicht aufmerksam beschäftigen können. Mersljakow war klar, daß hier in der Neurologie, wohin man ihn überraschend verlegt hatte, die eigentliche Untersuchung beginnt.
Sein ganzer verzweifelter Häftlingswille war seit langem auf eins konzentriert: sich nicht aufzurichten. Und er richtete sich nicht auf. Wie sehr wollte sich der Körper auch nur eine Sekunde lang ausstrecken. Doch Mersljakow erinnerte sich an das Bergwerk, an die atembenehmende Kälte, die gefrorenen, glatten, frostblanken Steine der Goldmine, an den Napf mit Brühe, die er zum Mittagessen in einem Zug austrank, ohne den überflüssigen Löffel zu benutzen, an die Gewehrkolben der Begleitposten und an die Stiefel der Vorarbeiter — und er fand in sich die Kraft, sich nicht aufzurichten. Im übrigen war es jetzt schon leichter als in den ersten Wochen. Er schlief wenig, aus Angst, sich im Schlaf auszustrekken. Er wußte, den diensthabenden Sanitätern war längst befohlen, auf ihn zu achten, um ihn des Betrugs zu überführen. Und auf die Überführung würde – auch das wußte Mersljakow – der Abtransport ins Strafbergwerk folgen. Wie aber mußte das Strafbergwerk aussehen, wenn schon das gewöhnliche Mersljakow solche schrecklichen Erinnerungen hinterlassen hatte?
Am Tag nach der Verlegung wurde Mersljakow dem Arzt vorgeführt. Der Stationsleiter erkundigte sich kurz nach dem Beginn der Erkrankung und nickte mitfühlend. Er erzählte, gleichsam nebenbei, daß sich auch gesunde Muskeln nach einigen Monaten an die unnatürliche Position gewöhnen und ein Mensch sich selbst zum Invaliden machen könne. Dann ging Pjotr Iwanowitsch an die Untersuchung.
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