Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Seine Fragen beim Setzen der Nadel, beim Abklopfen mit dem Gummihämmerchen und beim Druck auf bestimmte Stellen beantwortete Mersljakow aufs Geratewohl.
Mehr als die Hälfte seiner Arbeitszeit verwandte Pjotr Iwanowitsch auf die Entlarvung von Simulanten. Er verstand natürlich die Gründe, die die Häftlinge zum Simulieren veranlaßten. Pjotr Iwanowitsch war selbst noch vor kurzem Häftling gewesen, und er wunderte sich weder über den kindlichen Eigensinn der Simulanten noch über die leichtfertige Primitivität ihrer Fälschungen. Pjotr Iwanowitsch, ehemaliger Dozent an einer sibirischen Hochschule, hatte seine wissenschaftliche Karriere selbst im gleichen Schnee gemacht, wo seine Kranken ihr Leben retteten, indem sie ihn täuschten. Man kann nicht sagen, daß ihm die Menschen nicht leid taten. Jedoch war er mehr Arzt als Mensch, er war vor allem Spezialist. Er war stolz darauf, daß ein Jahr bei den allgemeinen Arbeiten ihm den ärztlichen Spezialisten nicht ausgetrieben hatte. Er betrachtete die Aufgabe des Entlarvens von Betrügern keineswegs von irgendeiner hohen, gesamtstaatlichen Warte aus und nicht vom Standpunkt der Moral. Vielmehr sah er in dieser Aufgabe die würdige Anwendung seiner Kenntnisse, seiner psychologischen Kunst, die Fallen aufzustellen, in die die hungrigen, halbverrückten, unglücklichen Menschen zum größeren Ruhm der Wissenschaft tappen mußten. In diesem Kampf zwischen Arzt und Simulant hatte der Arzt alles auf seiner Seite — Tausende raffinierter Arzneien, Hunderte von Lehrbüchern, eine reiche technische Ausstattung, die Hilfe der Begleitposten sowie die gewaltige Erfahrung des Spezialisten, wogegen auf seiten des Kranken nur das Entsetzen vor jener Welt stand, aus der er ins Krankenhaus gekommen war und in die zurückzukehren er sich fürchtete. Eben dieses Entsetzen gab dem Häftling auch die Kraft zu kämpfen. Wenn er wieder einen Betrüger entlarvte, empfand Pjotr Iwanowitsch tiefe Befriedigung: noch einmal bestätigt ihm das Leben, daß er ein guter Arzt ist, daß er seine Qualifikation nicht verloren, vielmehr an ihr gefeilt, sie geschliffen hat, kurz, daß er noch etwas kann...
Dummköpfe sind diese Chirurgen, dachte er, als Mersljakow gegangen war, und steckte sich eine Papirossa an. Die topographische Anatomie kennen sie nicht oder haben sie vergessen, und die Reflexe haben sie nie gekannt. Sie helfen sich allein mit dem Röntgen. Und wenn sie keine Aufnahmen haben, können sie nicht einmal einen einfachen Knochenbruch mit Sicherheit bestimmen. Aber eine Großtuerei! Daß Mersljakow ein Simulant war, war Pjotr Iwanowitsch natürlich klar. Gut, soll er eine Woche lang liegen. In dieser Woche sammeln wir sämtliche Analysen, damit alles seine Form hat. Alle Papiere kommen in die Krankengeschichte.
Pjotr Iwanowitsch lächelte, er genoß im voraus den theatralischen Effekt seiner neuen Entlarvung.
Eine Woche später wurde im Krankenhaus ein Transport für den Dampfer zusammengestellt — die Verschiffung von Kranken aufs Festland. Die Protokolle wurden gleich im Krankensaal geschrieben, und der aus der Verwaltung angereiste Vorsitzende der ärztlichen Kommission prüfte höchstpersönlich die Kranken, die das Krankenhaus zum Abtransport vorgesehen hatte. Seine Rolle bestand in der Prüfung der Dokumente und der Kontrolle ihrer korrekten Form — die persönliche Untersuchung des Kranken dauerte eine halbe Minute.
»Auf meinen Listen«, sagte der Chirurg, »steht ein gewisser Mersljakow. Vor einem Jahr haben ihm die Begleitposten das Rückgrat gebrochen. Ich möchte ihn mitschicken. Er wurde kürzlich in die Neurologie verlegt. Die Unterlagen zu seinem Abtransport sind bereit — hier.«
Der Kommissionsvorsitzende wandte sich dem Neuropathologen zu.
»Bringen Sie Mersljakow her«, sagte Pjotr Iwanowitsch.
Der zusammengekrümmte Mersljakow wurde gebracht. Der Vorsitzende sah ihn flüchtig an.
»So ein Gorilla«, sagte er. »Ja, natürlich, solche braucht man nicht hier zu behalten.« Und er griff zur Feder und streckte die Hand nach den Listen aus.
»Ich unterschreibe das nicht«, sagte Pjotr Iwanowitsch mit lauter und klarer Stimme. »Das ist ein Simulant, und morgen werde ich die Ehre haben, ihn Ihnen wie dem Chirurgen vorzuführen.«
»Gut, dann bleibt er«, sagte der Vorsitzende gleichgültig und legte die Feder hin. »Und überhaupt, lassen Sie uns zum Ende kommen, es ist schon spät.«
»Er ist ein Simulant, Serjoscha«, sagte Pjotr Iwanowitsch und hakte den
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