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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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der Kreisverwaltung des Ministeriums des Inneren mit seinem Untersuchungsapparat, der auf dem Feld der Lagerschulung Wirkende — der Chef der Kultur- und Erziehungsstelle mit seiner Inspektion: die Lagerleitung ist so zahlreich. Dem – guten oder bösen – Willen dieser Leute ist die Ausübung des Regimes überlassen. In den Augen des Häftlings symbolisieren all diese Leute den Druck, die Nötigung. Sie zwingen den Häftling zur Arbeit, hindern ihn bei Nacht und bei Tag an der Flucht, passen auf, daß der Häftling nicht zuviel ißt oder trinkt. All diese Leute sagen dem Häftling tagtäglich und stündlich nur eins: Arbeite! Mach!
    Und nur ein einziger Mensch im Lager sagt dem Häftling nicht diese schrecklichen, leidigen, im Lager verhaßten Worte: das ist der Arzt. Der Arzt sagt andere Worte: ruh dich aus, du bist müde, geh morgen nicht arbeiten, du bist krank. Nur der Arzt schickt den Häftling nicht viele Stunden täglich in die weiße winterliche Finsternis, in die eisige, steinerne Mine. Der Arzt ist qua Amt Fürsprecher des Häftlings, er schützt ihn vor der Willkür der Leitung und vor dem Übereifer der Veteranen des Lagerdiensts.
    In den Lagerbaracken hingen in manchen Jahren an den Wänden große gedruckte Bekanntmachungen: »Rechte und Pflichten des Häftlings.« Da gab es viele Pflichten und wenige Rechte. Das »Recht«, eine Eingabe an den Chef zu machen — allerdings keine kollektive... Das »Recht«, Briefe an die Familie zu schreiben unter Aufsicht der Lagerzensoren... Das »Recht« auf medizinische Hilfe.
    Letzteres Recht war extrem wichtig, auch wenn die Ruhr in vielen Gruben-Ambulatorien mit Kaliumpermanganat-Lösung behandelt und mit derselben Lösung, nur dicker, auch eiternde Wunden oder Erfrierungen bestrichen wurden.
    Der Arzt kann einen Menschen offiziell, mit einem Eintrag ins Buch, von der Arbeit befreien, er kann ihn ins Krankenhaus legen, zum Genesungspunkt schicken, ihm die Ration erhöhen. Und das wichtigste im Arbeitslager — der Arzt bestimmt die »Arbeitskategorie«, den Grad der Arbeitsfähigkeit, nach dem die Arbeitsnorm berechnet wird. Der Arzt kann sogar zur Freilassung vorschlagen, wegen Invalidität, nach dem berühmten Artikel 458 . Einen krankheitshalber von der Arbeit Befreiten kann niemand zum Arbeiten zwingen — der Arzt unterliegt in diesen Dingen keiner Kontrolle. Nur ranghöhere Ärzte können ihn kontrollieren. In seinem medizinischen Handeln ist der Arzt niemandem unterstellt.
    Außerdem, das darf nicht vergessen werden, fällt dem Arzt auch die Kontrolle über die in den Kessel gelangenden Lebensmittel zu, ebenso muß er die Qualität des zubereiteten Essens überwachen.
    Der einzige Fürsprecher des Häftlings, sein tatsächlicher Beschützer, ist der Lagerarzt. Seine Macht ist sehr groß, denn niemand von der Lagerleitung konnte das Handeln des Spezialisten kontrollieren. Gab ein Arzt ein falsches, fahrlässiges Gutachten ab, konnte das nur ein ranghöherer oder ranggleicher Mediziner feststellen — auch er ein Spezialist. Fast immer lagen die Lagerchefs mit ihren Ärzten im Streit — ihre jeweilige Arbeit brachte sie auseinander. Der Chef wollte, daß die Gruppe »W« (krankheitshalber auf Zeit von der Arbeit Befreite) möglichst klein bleibt, damit das Lager mehr Leute zur Arbeit schicken kann. Der Arzt aber sah, daß die Grenzen von Gut und Böse längst überschritten, daß die Leute, die zur Arbeit gingen, krank, müde und entkräftet waren und in erheblich größerer Zahl ein Recht auf Arbeitsbefreiung hatten, als dies die Lagerleitung befand.
    Der Arzt konnte bei ausreichender Charakterstärke auf der Arbeitsbefreiung von Leuten bestehen. Ohne das Plazet eines Arztes hätte kein einziger Lagerchef die Leute zur Arbeit geschickt.
    Der Arzt konnte einen Häftling vor Schwerarbeit bewahren — alle Häftlinge sind, wie die Pferde, in »Arbeitskategorien« eingeteilt. Die Arbeitsgruppen – davon gab es drei, vier oder fünf – nannten sich »Arbeitskategorien«, obwohl das ein Ausdruck aus dem philosophischen Wörterbuch zu sein schien. Das ist einer der Scherze oder vielmehr eine der Grimassen des Lebens.
    Eine leichte Arbeitskategorie zu verordnen hieß oft, ein Menschenleben vor dem Tod zu bewahren. Das Traurigste war, daß die Leute, die in die Kategorie der leichten Arbeit zu kommen bemüht waren und den Arzt zu betrügen versuchten, in Wirklichkeit viel ernster krank waren, als sie selbst dachten.
    Der Arzt konnte ihnen eine Erholung von der

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