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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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dir im Guten versuchen. Aber so — paß auf, in einer Woche wirst du selbst um deine Entlassung bitten.«
    »Was wird in einer Woche alles sein«, sagte Mersljakow leise. Wie sollte er dem Arzt erklären, daß selbst eine weitere Woche, ein weiterer Tag, eine weitere Stunde, die er außerhalb der Grube verbrachte, sein, Mersljakows Glück war. Wenn der Arzt das nicht selbst versteht, wie kann man es ihm erklären? Mersljakow schwieg und schaute zu Boden.
    Mersljakow wurde weggebracht, und Pjotr Iwanowitsch ging zum Krankenhauschef.
    »Es ginge schon morgen, nicht in einer Woche«, sagte der Chef, nachdem er Pjotr Iwanowitschs Vorschlag angehört hatte.
    »Ich habe ihm eine Woche versprochen«, sagte Pjotr Iwanowitsch, »davon wird das Krankenhaus nicht arm.«
    »Gut«, sagte der Chef. »Dann in einer Woche. Aber rufen Sie mich. Und werden Sie ihn anbinden?«
    »Man darf ihn nicht anbinden«, sagte der Neuropathologe. »Sonst renkt er sich den Arm oder das Bein aus. Sie werden ihn festhalten.« Und er nahm Mersljakows Krankengeschichte, schrieb in der Rubrik Verordnungen »Schocktherapie« und setzte das Datum dazu.
    Bei der Schocktherapie injiziert man ins Blut des Kranken eine Dosis Kampferöl, die das Quantum desselben Medikaments, das man Schwerkranken zur Unterstützung der Herztätigkeit unter die Haut spritzt, um ein mehrfaches überschreitet. Sie bewirkt einen plötzlichen Ausbruch, ähnlich einem Tobsuchts- oder epileptischen Anfall. Das Kampferöl führt zu einer jähen Steigerung der gesamten Muskeltätigkeit, aller Bewegungskräfte des Menschen. Die Muskeln geraten in unerhörte Anspannung, und die Kraft des Kranken, der das Bewußtsein verliert, verzehnfacht sich. Der Anfall dauert einige Minuten.
    Einige Tage vergingen, und Mersljakow dachte gar nicht daran, sich aus freiem Willen aufzurichten. Es kam der in der Krankengeschichte vorgesehene Morgen, und man brachte Mersljakow zu Pjotr Iwanowitsch. Im Norden ist man dankbar für jede Zerstreuung — das Kabinett des Doktors war voll. Acht baumstarke Sanitäter waren entlang der Wand angetreten. In der Mitte des Kabinetts stand eine Liege.
    »Wir machen es hier«, sagte Pjotr Iwanowitsch und stand vom Tisch auf. »Zu den Chirurgen brauchen wir nicht zu gehen. Übrigens, wo ist Sergej Fjodorowitsch?«
    »Er kommt nicht«, sagte Anna Iwanowna, die Schwester vom Dienst. »Er sagte, er ist beschäftigt.«
    »Beschäftigt, beschäftigt«, wiederholte Pjotr Iwanowitsch. »Für ihn wäre es nützlich gewesen, zuzusehen, wie ich seine Arbeit mache.«
    Man schob Mersljakow den Ärmel hoch, und der Feldscher rieb ihm den Arm mit Jod ein. Die Spritze in der rechten Hand, stach der Feldscher mit der Nadel nahe der Armbeuge in die Vene. Dunkles Blut strömte durch die Nadel ins Innere der Spritze. Mit einer weichen Bewegung des Daumens drückte der Feldscher den Kolben, und die gelbe Lösung begann in der Vene zu verschwinden.
    »Spritzen Sie schneller ein!«, sagte Pjotr Iwanowitsch. »Und gehen Sie flott beiseite. Und ihr«, sagte er zu den Sanitätern, »haltet ihn.«
    Der riesige Körper Mersljakows hüpfte und wand sich in den Händen der Sanitäter. Acht Personen hielten ihn. Er röchelte, wand sich, schlug aus, doch die Sanitäter hielten ihn fest, und allmählich beruhigte er sich.
    »Einen Tiger, einen Tiger kann man so bändigen«, schrie Pjotr Iwanowitsch begeistert. »In Transbajkalien werden Tiger so per Hand gefangen. Beachten Sie«, sagte er dem Krankenhauschef, »wie Gogol übertreibt. Erinnern Sie sich an das Ende von ›Taras Bulba‹? ›Wohl an die dreißig Mann hingen an seinen Armen und Beinen‹. Und dieser Gorilla ist ja größer als Bulba. Und bloß acht Personen.«
    »Ja, ja«, sagte der Chef. An Gogol erinnerte er sich nicht, aber die Schocktherapie gefiel ihm außerordentlich.
    Am folgenden Morgen blieb Pjotr Iwanowitsch während der Visite an Mersljakows Bett stehen.
    »Na und«, fragte er, »wie sieht deine Entscheidung aus?«
    »Entlassen Sie mich«, sagte Mersljakow.
    ‹1956›

Das Krummholz
    Im Hohen Norden, an der Grenze zwischen Tajga und Tundra, unter Zwergbirken und krüppeligen Vogelbeerbüschen mit überraschend großen hellgelben wäßrigen Beeren, unter sechshundertjährigen Lärchen, die mit dreihundert Jahren ihre Reife erreichen, lebt ein besonderer Baum — das Krummholz. Es ist ein entfernter Verwandter der Zeder, eine Zirbel — immergrüne Nadelbüsche mit mehr als menschenarmdickem Stamm und einer Höhe von zwei, drei

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