Durchgebrannt - Roman
und dann, weil ich sowieso nichts Besseres zu tun habe, bleibe ich noch und spiele sogar mit. »Okay, also, ich wünsche mir . . . ich wünsche mir, ich wäre schon achtzehn, hätte einen Ferrari und Ricarda wäre meine Freundin.«
»Ricarda.« Die Kleine verdreht verzückt die Augen. »Ist die hübsch?«
»Und wie.«
»Wie'n Topmodel?«
»Mindestens.«
»Aber sie ist nicht deine Freundin?«
»Nee, momentan nicht.« Mir wird ein bisschen unbehaglich. Was mache ich hier überhaupt? Von Ricarda habe ich bisher doch noch niemandem erzählt.Nils ahnt natürlich was, aber er spricht mich nicht drauf an. Viele Jungs fliegen auf sie und vielleicht denkt er, dass sie für uns beide sowieso unerreichbar ist. Ich selbst habe mir den ganzen Tag noch nicht erlaubt, an Ricarda zu denken. Aber jetzt tue ich es und ich merke, wie unglaublich gern ich mit ihr und den anderen in die Jugendfreizeit gefahren wäre.
Stattdessen fährt Lennart an meiner Stelle. Die blasse Qualle wird sich einen Sonnenbrand einfangen, während ich immer bleicher werde. Ich bin davon überzeugt, dass das Zusammensein mit meiner Familie enorm gesundheitsschädlich ist.
»Die wird bestimmt noch deine Freundin.« Die Kleine senkt ernst den Blick auf ihre gewölbten Hände und flüstert bedeutungsvoll: »Du hast seine Wünsche gehört, Fee.«
Meine Wünsche . . . Mir wird schlecht. Nicht eine Sekunde habe ich gerade an Sarah gedacht! Wahnsinn: Wenn es die Fee wirklich gäbe, hätte ich die einmalige Möglichkeit, meine sterbenskranke Schwester zu retten, einfach so verspielt.
»Tschüss.« Ich renne los, ohne mich noch einmal umzusehen.
5
Vor der Drehtür bleibe ich stehen. Das Vernünftigste wäre, ganz normal wieder hochzugehen. Sarah weiß ja nicht, was gerade passiert ist. Niemand weiß das. Und wenn ich mich nicht selbst verrate, wird es auch niemand erahnen. Nicht mal Oma Gabi.
Also, worauf warte ich noch? Ich
muss
doch wieder rein.
Verdammt, ich will aber nicht. Meine Lippen sind aufeinandergepresst, die Fäuste geballt. Mir reicht es. Ich habe ein Leben neben diesem hier. Und wenn ich es jetzt nicht ergreife, geht es einfach so an mir vorbei.
Ich muss eine Entscheidung treffen. Mein ganzer Körper zittert vor Anstrengung. Die Bademantel-Raucher mustern mich.
»Hey«, sagt einer und kommt mit seinem tragbaren Chemoteil auf mich zugerollert. »Alles klar mit dir?«
»Kümmer dich um deinen eigenen Kram!«, schreie ich den Mann an. Er erschrickt und fällt fast über seinen Infusionsständer. Ich aber mache kehrt, direktauf dem Absatz. Ich laufe mit großen Schritten und ohne stehen zu bleiben: über den Parkplatz, durch die Siedlung, die Straße runter, bis zur Bushaltestelle.
Meine Schülerfahrkarte ist zu Hause, aber es kontrolliert niemand. Unbehelligt kann ich auf einem Einzelsitz hocken und mit langsam ruhiger schlagendem Herzen warten, bis ich aussteigen muss.
In unserer Straße ist es still und verlassen wegen des langen Pfingstwochenendes. Würde mich jemand sehen und ansprechen, wäre das aber auch egal. Die meisten Leute wissen ja nicht, dass heute Sarahs Geburtstag ist und ich im Krankenhaus sein sollte. Als ich den Schlüssel aus dem Versteck hinter dem Gartenschuppen hole, komme ich mir schon fast wie ein Einbrecher vor. Dabei ist es unser Haus. Es ist ganz legitim, dass ich an den Kühlschrank gehe und eine Flasche Apfelsaft austrinke.
Dass ich dann im Schlafzimmer meiner Eltern nach der silbernen Schmuckdose suche, die mein Vater meiner Mutter zur Hochzeit geschenkt hat, ist natürlich schon etwas anderes. Normalerweise gehe ich genauso wenig in ihr Schlafzimmer, wie sie in meinem Reich rumschnüffeln.
Daher zucke ich auch wie ertappt zusammen, als mit einem lauten Klackern die Post in den Briefkasten geworfen wird, denn die Unterwäscheschublade meiner Mutter ist für mich eigentlich tabu.
Aber gerade hier finde ich die Schatulle. Ich öffne sie und blicke prompt auf ein Foto von Sarah. Ihrletztes wichtiges Fußballspiel: Nach Abpfiff umarmt sie verschwitzt und dreckverschmiert meine Eltern und balanciert dabei einen Pokal auf dem Kopf.
Und wo bin ich? Es ist doch wieder total ätzend, ein Foto auszusuchen, auf dem nur sie drei drauf sind. Mir fällt ein, wie oft ich auf die brave, tolle Sarah eifersüchtig war. Bevor ich nachdenken kann, hab ich das Foto auch schon gepackt und zerknüllt.
Ein Fünfhunderter steckt noch in der Dose. So viel Knete. Und für mich habt ihr keinen Cent übrig. Na wartet! Das ist Geld,
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