Durchgebrannt - Roman
eine Glastür, noch eine und ich bin frei.
4
Der Krankenhauspark ist groß, mit frisch gemähten Wiesen unter alten Bäumen. Ich laufe über das Gras, greife mir einen am Boden liegenden Ast, schlage damit herum, verprügele den Sommertag, die Vogelstimmen und die Lichtflecken, die durch das Blätterdach fallen. Laut schimpfe ich vor mich hin, verfluche Sarah und ihre Krankheit, verfluche meine Eltern, meine Tanten, meinen Onkel und meinen Cousin. »Scheiße«, rufe ich laut, erreiche ein Goldfischbassin, steige auf den Rand und schlage mit dem Stock auf die Wasseroberfläche ein. »Ja, seht nur zu, dass ihr wegkommt, ihr fetten, glotzäugigen Mistviecher!«
Ein älteres Ehepaar mit Gehwagen schleicht an mir vorbei. »Buh!«, rufe ich, als sie sich, schon ein paar Schritte entfernt, noch mal zu mir umdrehen. Gleich darauf kommt eine junge Frau vorbei und schüttelt missbilligend den Kopf - so der Typ Ärztin, Lehrerin oder Tante Margarete, so eine, die am liebsten sagen will: »Schäm dich, hier so ein Theater zu machen.« Ich ziehe eine Fratze, strecke ihr die Zunge raus, hebe die Arme und springe wie ein Affe auf der Stelle.Das schlägt auch sie in die Flucht. Ich würde am liebsten auch abhauen, ab nach Hause, meine Tasche packen und in die Jugendfreizeit, aber ich darf ja nicht, ich muss hierbleiben und warten, bis ich bekloppt werde.
Wisst ihr eigentlich, was ihr mir antut, was ihr von mir verlangt?
Diese letzten Male beim Training: Alle reden über die Fahrt, stellen Pläne fürs Turnier auf, verteilen die Plätze in den Zelten, freuen sich, dass die Mädchen auch dabei sein werden -- und ich kann nicht mit. Stattdessen wird der Stümper von Lennart spielen, eine Null wie mein Cousin Daniel, Weichei, Eckensteher, Schleimbeutel.
Ich prügele weiter auf das Wasser ein, mein Stock fällt mir aus der Hand, und bevor ich einen anderen nehme, den vielleicht schon ein Köter angesabbert hat, ziehe ich ohne weiter. Dafür lasse ich jetzt die Arme kreisen, als wolle ich mich vor dem Training warm machen. Wie eine wandelnde Windmühle laufe ich am Goldfischbassin entlang, entdecke eine leere Bierdose auf dem Kies und schieße sie mit voller Wucht den Weg hinunter, sodass die Steinchen nur so zur Seite stieben.
»Tor«, sagt eine piepsige Stimme hinter dem nächsten Rhododendronbusch. Das Gesicht eines kleinen Mädchens erscheint.
»Nee, daneben.« Ich mag's nicht, wenn man mich von der Seite anquatscht. Und schon gar nicht, wennes sich um halbe Gespenster handelt, wie dieses ausgezehrte Kind mit seinem grauen Gesicht und seinem hellen Kleidchen, das aussieht wie ein Totenhemd. Welcher Idiot hat diese makabren Klamotten ausgesucht?
Sie sitzt allein auf einer Bank und hält die Hände so vorsichtig gewölbt übereinander, als hätte sie ein Tier in ihnen gefangen.
»Was hast du da?«, frage ich neugierig und denke daran, wie Sarah und ich früher aus dem Nest gefallene Jungvögel retten wollten. Meistens vergebens.
»Geheimnis.«
»Das ist bei mir gut aufgehoben.« Entschlossen setze ich mich neben sie. »Zeig mal.«
»Nein.« Sie rutscht ein Stück zur Seite, nicht ängstlich, eher erbost. »Die hab
ich
gerettet.«
»Am besten lässt man kleine Vögel aber, wo sie sind. Sonst nehmen die Eltern sie nachher nicht mehr an.«
»Du bist ja sehr schlau.« Die Kleine lässt eine Augenbraue hochschnellen, nur eine, das sieht lustig aus. Überhaupt ist sie auf den zweiten Blick doch sehr lebendig. »Glaubst du, das weiß ich nicht?«
Ich überlege weiterzulaufen.
»Okay, ich sag dir, was ich aus dem Wasser gefischt hab.« Sie grinst mich mit offenem Mund an und schüttelt sich die strähnigen Haare aus dem Gesicht. »Weil du nett bist. Aber, pssst« -- sie hebt die Hände an die Lippen -- »sag's nicht weiter: Es ist eine Fee.«
»Eine Fee?«
»Ja, eine wunderschöne mit blaugrünem Bauch und goldenen Flügeln. Aber sie ist ins Wasser gefallen und wäre beinahe ertrunken. Im letzten Moment hab ich sie mit den Flügeln zappeln sehen. Da hab ich sie schnell rausgefischt und ihr das Leben gerettet. Zum Dank hab ich jetzt drei Wünsche frei.«
Wahrscheinlich ist dieses verträumte Wesen auf der gleichen Station wie meine Schwester. Jetzt wird sie mir gleich verraten, was sie sich wünscht: Gesundheit und Geburtstagskuchen.
Ich stehe auf.
»Weißt du, eigentlich wünsch ich mir gar nichts. Du kannst meine Wünsche haben. Ich schenk sie dir. Sag der Fee, was
du
dir wünschen würdest!«
Erleichtert lache ich auf
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