Eanna - Stürmische See - Éanna ; [2]
werden oder an das, was vorher geschehen war.
Nachdem ihnen beiden Hunger und Krankheit in kürzester Zeit Eltern und Geschwister genommen hatten, waren sie und Brendan bis zu ihrer jähen Trennung wochenlang gemeinsam durch das Land geirrt, waren wie Hunderttausende andere mittellose Hungerleider zu dem menschlichen Treibgut geworden, das überall in Irland die »Straßen der Sterne« bevölkerte. So nannte man beschönigend jene Landstraßen, die Heimat für die zahlreichen Obdachlosen geworden waren.
Es war die Kartoffelfäule, die Irland die schrecklichste Hungersnot aller Zeiten gebracht hatte, indem sie eine Ernte nach der anderen vernichtete. Die Kartoffel war seit Generationen die Hauptnahrung der armen Landbevölkerung gewesen und nun führte der Ernteausfall unweigerlich zu einer nationalen Katastrophe. Noch nie zuvor hatte das Schicksal Irland mit einer solch vernichtenden Geißel heimgesucht wie in diesen Jahren. Ganze Landstriche waren entvölkert und die Menschen litten unvorstellbares Elend. Auf den Friedhöfen war längst kein Platz mehr für all die Toten. Der Anblick von Leichen, von vor Hunger und Krankheit ausgezehrten Körpern war für Éanna und Brendan zum schauerlichen Alltag geworden und es hätte nicht viel gefehlt und sie beide hätte das gleiche Schicksal ereilt.
Éannas Gedanken kehrten zu jenen Wochen zurück, in denen sie mit Brendan täglich verzweifelt nach ein wenig Essen gesucht hatte und nach einem nächtlichen Unterschlupf, der sie dem Wind und dem Wetter des einsetzenden Winters nicht schutzlos auslieferte. Und diese Wochen grausamster Not hatten sie und Brendan weit über die bloße Kameradschaft hinaus zusammengeschmiedet. Aus der anfänglichen Abneigung und dem berechtigten Misstrauen, das sie ihm entgegengebracht hatte, war schnell Freundschaft geworden und irgendwann in den Wäldern der Wicklow-Berge war ihre Liebe zueinander entbrannt.
Aber dann hatte Éanna hohes Fieber bekommen und Brendan war gezwungen gewesen, sie ins Armenhaus zu bringen, wo sie getrennt worden waren.
»Erinnerst du dich an die große Schiefertafel in Clifton House?«, fragte Brendan und seine Stimme zitterte. »Eines Tages stand dort, wo jeden Morgen die Namen der Verstorbenen angeschrieben wurden, dein Name! Von da an war auch ich innerlich wie tot.« Er umklammerte ihre Hände, als wollte er sie nie wieder freigeben.
Éanna sah ihm an, dass er sie gern in seine Arme geschlossen und geküsst hätte, und ihr ging es genauso.
Doch derlei intime Liebesbezeugungen gehörten sich nicht in einer Kirche. Daran änderte auch nicht, dass sich nur noch einige wenige Gläubige in der Kathedrale aufhielten, die in stille Gebete vertieft hier und da in den Bankreihen knieten oder vor den Seitenaltären Kerzen aufstellten.
»Ich selbst habe erst später erfahren, dass einer der Wärter meinen Namen fälschlicherweise auf die Tafel geschrieben hatte«, flüsterte Éanna ihm zu. »Caitlin und Emily haben mir davon erzählt.«
»Sag bloß, du hast deine beiden Freundinnen ausgerechnet in der Hölle von Clifton House wiedergetroffen?«, fragte er überrascht.
Sie nickte. »Ja, auch sie haben in ihrer Not keinen anderen Ausweg gewusst, als in diesem unmenschlichen Arbeitshaus Zuflucht vor dem Verhungern und Erfrieren zu suchen. Jedenfalls haben sie mir von der Namensverwechslung erzählt und von der heftigen Prügelei, die du dir an jenem Morgen mit den Aufsehern geliefert hast. Und dass dir gerade noch rechtzeitig die Flucht gelungen ist, bevor sie dich wegen schwerer Körperverletzung vor Gericht stellen und in ein Gefängnis stecken konnten.«
Er schnitt eine wütende Grimasse. »Diese Schweinehunde! Sie haben mich provoziert!«
Éanna nickte. Sie hatte am eigenen Leib erfahren, wie grob und herrisch das Personal der Anstalt mit den Insassen von Clifton House umgesprungen war. Als hätten sie durch ihre bittere Armut ein Verbrechen begangen, das es hinter den Mauern des Armenhauses zu sühnen galt!
Brendan atmete tief durch. »Wenn du wüsstest, was ich mir nach meiner Flucht für Vorwürfe gemacht habe! Ich kann noch gar nicht richtig glauben, dass … dass dieses Wunder wirklich geschehen ist und du wahrhaftig lebst!«
»Ich kann es auch nicht glauben. Es kommt mir alles wie ein Traum vor und dieser Traum ist viel zu schön, um wahr zu sein«, erwiderte Éanna und aufs Neue lief ihr eine Träne über das Gesicht, das noch immer von den Monaten schwerster Entbehrungen gezeichnet war. »Endlich sind
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