Earth Girl. Die Begegnung
in primitive Kuppelbauten zu quetschen. Ihr müsst euch ja sogar das Bad teilen. Das ist echt total unhygienisch!»
Statt zu antworten streckte ich ihr bloß die Zunge raus. Issette war meine beste Freundin, und ich hatte ihr schon hundertmal erklärt, wie sehr ich Geschichte liebte, vor allem Vorgeschichte, also die Zeit, als die Menschheit noch ausschließlich hier auf der Erde lebte, statt über Tausende von Planeten in sechs verschiedenen Sektoren verstreut zu sein. Ich hatte ihr beschrieben, wie unglaublich aufregend es war, die Ruinen der alten Städte auszugraben und dabei nie zu wissen, ob man eine Stasisbox finden würde, in der sich Schätze aus der Vergangenheit befanden. Oder auch Hinweise auf das Wissen und die Technik, die der Menschheit während des Exodus-Jahrhunderts verloren gegangen waren, als alle überstürzt die Erde verließen, woraufhin das Datennetz der Erde zusammenbrach. Das alles hatte Issette nie wirklich verstanden, genauso wenig, wie ich ihr Interesse an Medizin nachvollziehen konnte.
Sie stöhnte. «Ich weiß, ich weiß. Du bist besessen von Geschichte und Grabungsorten. Das warst du schon immer und … Aber warte mal. Wenn es bei euch jetzt zehn Uhr ist, solltest du dann nicht gerade irgendwelche grässlich gefährlichen, anstrengenden Ausgrabungen machen oder einer langweiligen Vorlesung lauschen? Du sagst doch immer, euer Dozent ist ein totaler Sklaventreiber.»
Ich grinste. «Sollten wir eigentlich, aber Playdon musste den Vorlesungsbeginn verschieben. Ihm sind sechsundzwanzig Leute aus dem Kurs abhanden gekommen.»
Eine körperlose Hand tauchte im Holo-Bild auf und reichte Issette ein Glas Frujit. Sie trank es in einem Zug leer. Die Hand verschwand und wurde durch Keons Kopf ersetzt.
«Wie kommen einem Dozenten denn sechsundzwanzig Studenten abhanden?», wollte er wissen. «Ich weiß ja, dass deine Kommilitonen alle von anderen Welten sind, aber sie sollten doch trotzdem in der Lage sein, durch ein interkontinentales Portal nach Afrika zu spazieren, ohne sich dabei zu verlaufen.»
Keons Anblick haute mich um. Er und Issette gehörten zu meiner Ersatzfamilie: Zu neunt hatten wir gemeinsam Nursery, Home und Next Step durchlaufen, nachdem unsere Eltern uns wegen unserer Behinderung nach der Geburt abgegeben hatten. Am letzten Year Day waren wir alle achtzehn geworden. Keon und Issette hatten inzwischen einen Paaringsvertrag, deshalb überraschte es mich nicht, dass die beiden morgens zusammen waren. Erstaunlich war vielmehr, was Keon anhatte.
«Wie kommt es, dass der für seine Faulheit berüchtigte Keon Tanaka schon vor acht Uhr morgens wach und angezogen ist?», wollte ich wissen. «Das sind doch neue Klamotten, oder? Und du hast dir sogar die Haare gekämmt!»
Er stöhnte. «Daran bist du schuld, Jarra. Issette will, dass ich jemandem meine Lichtskulpturen zeige.»
Ich runzelte die Stirn. «Aber wieso soll das meine Schuld sein?»
«Sie hat angefangen, die Leute herumzukommandieren, genau wie du. Da war es weniger Aufwand nachzugeben, als endlos mit einer Jarra-Kopie herumzustreiten. Wie hält dein Freund das nur aus?!»
«Ich kommandiere niemanden herum, und Fian schon gar nicht!», protestierte ich.
«Natürlich tust du das, und jetzt beantworte mal meine Frage.»
Im Lauf der Jahre habe ich gelernt, dass es keine gute Idee ist, sich mit Keon zu streiten. Die meiste Zeit ignoriert er dich einfach, und wenn nicht, dann bringt er dich mit einem einzigen Satz zum Schweigen, und du merkst, dass er ungefähr zehnmal so schlau ist wie du. Wie damals, als unsere furchteinflößende Physiklehrerin eine geschlagene Viertelstunde lang wegen nicht gemachter Hausaufgaben mit ihm geschimpft hat. Irgendwann gähnte Keon und meinte, ihn habe einfach diese Diskrepanz verwirrt zwischen der Portalgrundgleichung, wie Wallam-Crane sie im Jahr 2200 aufgestellt hat, und derjenigen, die am Anfang der Hausaufgabe stand. Dann erkundigte er sich höflich, ob es sich dabei bloß um einen Fehler handle oder ob sie womöglich eine entscheidende Entdeckung gemacht habe, die sämtliche Portaltheorien widerlege, die seit bald sechshundert Jahren von allen Wissenschaftlern akzeptiert würden.
Es macht viel mehr Spaß, solche Situationen zu beobachten, als selbst Keons Zielscheibe zu sein, deshalb ließ ich die Sache auf sich beruhen. Allerdings brauchte ich eine Sekunde, bis mir wieder einfiel, was seine Frage gewesen war. «Ach, die verlorenen Studenten. Als wir New York verließen, hatten wir
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