Ebbe und Glut
Nur wenige Spaziergänger waren unterwegs.
Mia steckte die Hände in ihre Manteltaschen und sah einem großen Hund hinterher, der über den Strand rannte. Das Wetter deprimierte sie. Ihr ganzes Leben deprimierte sie. Frank hatte sie sitzen lassen, ihren Job in einer Werbeagentur hatte sie verloren, der Roman, der ihr Ruhm und Geld bringen sollte, verstaubte in der Schublade, und in diesem Jahr drohte auch noch ihr vierzigster Geburtstag.
Was für ein Albtraum!
Blow-Job , dachte sie und kostete die Worte auf ihrer Zunge, gab dem heimlichen Sehnen Raum, das sich in ihrem Bauch ausbreitete. Sie hätte auf einen Schlag einen Job und einen Mann. Mach dich nicht lächerlich, schalt eine verächtliche Stimme in ihr, das wäre doch kein Job . Du wärst eine Hure , weiter nichts. Es wäre ein Abenteuer, ein Experiment, ein wenig Ablenkung im öden Alltag einer arbeitslosen Singlefrau, schmeichelte ihr eine andere Stimme.
Ein Mann kam ihr entgegen, groß und gut aussehend. Was, wenn er es wäre? Ihre Augen verfingen sich eine Sekunde lang ineinander. Mia hielt den Atem an, ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, dann war es vorbei. Der Mann pfiff nach dem Hund, der zwischen den Steinen an der Uferböschung herumschnüffelte. Mia drehte sich um und ging heimwärts.
Sie dachte an Frank. Vor dem Gesetz waren sie noch Mann und Frau, aber sie konnte den Tag kaum erwarten, an dem sie endlich auch auf dem Papier geschieden waren. Keine Minute länger als zwingend nötig wollte sie mit diesem Mann verbunden sein. Wie so oft, wenn sie an Frank dachte, stieg in ihr eine ohnmächtige Wut auf.
Und plötzlich fasste sie einen Entschluss.
»Pah, Frank Lohmann«, sagte sie mit grimmiger Entschlossenheit in die Stille ihrer Wohnung hinein, »was du kannst, kann ich schon lange.«
Sie musste dennoch zwei Gläser Wein trinken, bevor sie den Mut fand, die Mail abzuschicken.
»Hallo, ich bin an dem Job interessiert. Wie sehen die Bedingungen aus?«
Die Antwort kam noch am selben Abend. Mia schlug das Herz bis zum Hals, als sie die Mail öffnete.
»Hallo,
danke für Ihr Interesse. Ich schlage vor, dass wir uns mal treffen und schauen, ob wir uns dieses besondere Arrangement miteinander vorstellen können. Falls ja, läuft es so ab: Sie kommen ein-, zweimal pro Woche zu mir, erledigen Ihren Job, ich bezahle Sie, und fertig. Sie müssen nur blasen, mehr nicht. Ich werde Sie nicht anfassen, werde nicht mehr von Ihnen verlangen. Für einmal Blasen gibt es 50 Euro.
Gruß A.«
Atemlos starrte Mia auf ihren Bildschirm und las die Mail noch mal und noch mal. Sie musste vollkommen verrückt geworden sein, dass sie auch nur in Erwägung zog, sich mit diesem Mann zu verabreden. Aber eine seltsame Aufregung hatte sie erfasst. Angenommen, sie ginge auf den Deal ein, dann könnte sie im Monat bis zu vierhundert Euro verdienen, bar auf die Hand, schwarz. Und es war mit keiner nennenswerten Anstrengung verbunden. Im Gegenteil, vielleicht würde es ihr sogar Spaß machen. Sie malte sich lustvolle Begegnungen aus, erotische Abenteuer, sinnliche Verführungen. Und sie stellte sich vor, was sie sich alles würde leisten können. Vierhundert Euro – das war für sie ein Vermögen. Mia schloss die Augen. Es konnte natürlich auch sein, dass der Typ total durchgeknallt war, krank im Kopf, ein Vergewaltiger. Es konnte sein, dass er fett und hässlich war und aus dem Mund stank – von anderen Körperteilen ganz zu schweigen.
Mia atmete tief durch und streckte sich auf ihrem Sofa aus. Wer wagt, gewinnt, säuselte die Verführerstimme in ihrem Ohr. Ein lustvolles Prickeln erfasste ihren Körper. Ja, dachte sie, oh ja!
Mia machte sich sorgfältig zurecht. Sie duschte und rasierte sich gründlich. Anschließend cremte sie sich am ganzen Körper mit nach Rosen duftender Body Butter ein, einem sündhaft teuren Zeug, das ihre Freundin Henny ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie kramte die schwarzen Spitzendessous hervor, die sie von Frank zum vierten Hochzeitstag bekommen hatte (wenn der wüsste!) und zog eine schwarze Strumpfhose an. Sie brauchte lange, bevor sie sich für ein grau meliertes Wollkleid mit langen Ärmeln entschied. Es endete knapp über ihren Knien und sah nicht zu freizügig, aber auch nicht zu langweilig aus. Nervös biss sie sich auf die Lippen. Dann machte sie sich auf den Weg.
Der Treffpunkt befand sich unten an der Elbe, in der neu gebauten Hafencity. Das war die erste Überraschung. Dies war auf jeden Fall kein Ort, an dem
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