Edelherb: Roman (German Edition)
»Nimm doch bitte zwei Apfelsinen. Nimm ein ganzes Netz«, sagte sie und ließ meine Hand los, um ihr letztes rotes Netz mit Obst zu füllen.
Ich sagte, ich würde sie nur vom Verkaufen abhalten. Was auch stimmte. Auf dem Markt war keine Zeit für intensiven Austausch, und Jane Delacroix hatte wertvolle Ware.
Sie drückte mir das Netz mit Apfelsinen an die Brust. »Ich werde nie vergessen, dass du meinem Sohn das Leben gerettet hast.« Sie nahm mein Gesicht in die Hände und küsste mich auf beide Wangen. »Mir tut das alles so leid. Ich weiß, dass du ein liebes Mädchen bist.«
Hinter ihr betrat Win den Obststand. In der Hand hatte er Netze in verschiedenen Farben.
Ich holte tief Luft und ermahnte mich, dass Win eine Freundin hatte, und die war nicht ich.
»Ich muss jetzt los«, sagte ich. »Meine Schwester treffen.« Ich tauchte in der Menschenmasse unter, nichts wie fort von Win.
Natty entdeckte ich an einem Stand mit Taschenbüchern, der 451 Books hieß. Anders als bei den Waschmittel-, Pasta- und Obstverkäufern war sie hier die einzige Kundin. Zwei Bücher hielt sie mir entgegen. »Was meinst du, Annie, was würde Imogen besser gefallen?
Bleak House
von Charles Dickens oder
Anna Karenina
von Leo Tolstoi? In dem einen geht es, glaube ich, um einen Gerichtsprozess, und das andere ist wohl eine Liebesgeschichte. Weiß ich nicht genau.«
»Das mit dem Prozess«, sagte ich. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich legte meine Hand auf die Brust, als könne ich es beruhigen.
»Dann also
Bleak House
«, sagte Natty und wollte das Buch bezahlen.
»Warte, wir nehmen beide. Für jede ein Buch. Du schenkst ihr die Liebesgeschichte. Ich nehme den Prozess.«
Natty nickte. »Ja, Imogen ist so gut zu uns, nicht?«
Ich atmete tief durch und vergewisserte mich, dass ich alle Einkäufe beisammenhatte: Waschmittel? Ja. Haarspülung? Ja. Pasta? Ja. Blumen? Ja. Apfelsinen? Verflixt! Ich hatte die Orangen am Stand von Wins Mutter vergessen. Auf gar keinen Fall würde ich sie mir holen.
Wir verließen den Bücherstand, und ich nahm Nattys Hand, obwohl sie viel zu alt dafür war. »Hast du Obst bekommen?«, wollte sie wissen.
Ich verneinte. Bei dem Geständnis musste ich wirklich zerknirscht wirken, denn Natty hatte das Gefühl, mich trösten zu müssen. »Schon gut. Wir haben doch noch Ananas in Dosen«, sagte sie. »Vielleicht sogar tiefgefrorene Himbeeren.«
Fast hatten wir den Union Square hinter uns gelassen, als ich eine Hand auf der Schulter spürte. »Du hast das hier vergessen«, sagte eine Stimme.
Ich drehte mich um und wusste schon vorher, wer das war. Natürlich war es Win. »Meine Mutter hat darauf bestanden, dass ich sie dir bringe …«
Was war bloß mit Wins Mutter los?
»Hallo, Natty«, grüßte Win.
»Hallo, Win«, entgegnete meine Schwester kühl. »Du hast ja gar keine Mütze mehr auf. Mit Mütze hast du mir besser gefallen.«
Ich nahm das Apfelsinennetz und schwieg.
»Fast hätte ich euch zwei nicht mehr gefunden. Ich bin wohl nicht mehr so schnell wie früher«, sagte Win.
»Wie geht es deinem Bein?«, erkundigte ich mich.
Er lächelte. »Tut immer noch sauweh. Wie war der Rest des Sommers für dich?«
Ich lächelte ebenfalls. »Furchtbar.« Dann schüttelte ich den Kopf, wollte zur Besinnung kommen. »Ich habe gehört, du gehst jetzt mit Alison Wheeler.«
»Ja, das stimmt, Anya«, sagte er nach einer Pause. »Hat sich schnell rumgesprochen.«
Noch schneller entscheiden sich Herzen um.
»Ich habe mal zu dir gesagt, du würdest schneller über mich hinwegkommen, als du dächtest, und ich hatte recht.«
»Anya …«, sagte er.
Ich weiß, dass ich verbittert klang, doch was sollte das nützen? Ich hatte verdient, dass er mir antat, was immer er gerade tat. Eigentlich war es schon eine Leistung für sich – jemanden, der so treu war wie Win, so schnell umzustimmen.
Ich sagte also, ich würde mich für ihn freuen. Das meinte ich nicht ernst, aber ich versuchte so zu tun, als wäre ich erwachsen. (Waren das nicht die Lügen, die sich Erwachsene erzählten?) Win machte ein Gesicht, als würde er die Sache mit Alison erklären wollen, aber genau genommen wollte ich es gar nicht wissen. Normalerweise wollte ich immer alles ganz genau wissen, doch in diesem Fall war ich damit zufrieden, im Ungewissen gelassen zu werden. Win hatte es mir leichtgemacht, oder? Daher beugte ich mich vor, um ihn, wie ich dachte, ein letztes Mal zu umarmen. »Pass auf dich auf«, sagte ich. »Ich werde dich in
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