Das Hexenkloster
Wenn der Nebel nicht vorhanden war, dann sah er das Meer oft als einen riesigen Teich an, der an der einen Seite in die Unendlichkeit hineinglitt und sich dort verlor.
Nahe der Küste allerdings hatte die Natur im Laufe der unzähligen Jahre Zeichen gesetzt. Da ragten die hohen Felsen wie spitze Mützen aus dem Wasser. Drei waren es insgesamt. Graue Türme, gegen die die Wellen schlugen, als wollten sie das Gestein zerbrechen, was aber nie eintrat.
Hinter Turners Rücken bildete die Landschaft ein sanftes Hügelgebiet. Mal kahl, mal mit Buchen oder Niederwald bewachsen, und die wenigen Ortschaften, die es dort gab, verloren sich in diesem Gelände und schienen von aller Welt vergessen zu sein.
Die nächste große Stadt hieß Haverfordwest. Sie war hier in Wales bekannt, und wer aus den umliegenden Orten etwas Spezielles einkaufen wollte, der fuhr dorthin.
Alles übrige war weit weg, denn die Waliser blieben gern unter sich. Was in London, der Hauptstadt passierte, das kümmerte sie nicht. Die Leute lebten hier ihr eigenes Leben. Sie befanden sich zwar in der Gegenwart, aber die Vergangenheit war für sie nicht gestorben. Hier frönte man der Erinnerung an den alten Druidenzauber und an Merlin, der hier gewirkt haben sollte.
Ike Turner war das egal. Er stammte aus dem Norden, war Schotte und hatte sich nach einigen Jahren anerkannt gefühlt. Sicherlich auch, weil er den Menschen klargemacht hatte, wie wichtig der Umweltschutz letztendlich war.
Der Nebel blieb.
Turner wollte ihn genauer sehen. Er setzte sein Glas gegen die Augen und schaute die breite Front ab. Eine Lücke sah er nicht darin. Der Nebel hatte einen grauen Vorhang gebildet, der sich immer weiter übers Land schob.
Ike konnte seinen Job vergessen. Er hatte sowieso nur eine Pause eingelegt, denn danach wollte er die kleine Messstation besuchen, die versteckt im Wald lag. Außerdem hatte er sich noch vorgenommen, die wilde Müllkippe zu kontrollieren, die vor einigen Wochen gefunden worden war. Bei Nacht und Nebel hatten Unbekannte mitten in der Natur ihren Industriemüll abgeladen, damit er in der Natur verrotten konnte. Aber er verging nicht. Leider. Kühlschränke und öliges Metall sowie Autoreifen waren dagegen resistent.
Unter großen Mühen war das Zeug wieder weggeschafft worden, aber Turner nahm hin und wieder Bodenproben, um sie zu analysieren. Er wollte herausfinden, wie stark die Erde kontaminiert worden war. Da der Müll recht schnell entdeckt worden war, hielt sich das in Grenzen, aber Ike ging lieber auf Nummer sicher.
Eine seiner größten Freuden wäre es gewesen, hätte er die Umweltsünder stellen können. Das war ihm leider nicht gelungen. Die Hoffnung hatte er trotzdem nicht aufgegeben.
Der letzte Blick durch das Glas. Keine Chance, gegen den Nebel anzukommen. Aber Turner stellte fest, dass er sich nicht mehr so schnell ausbreitete. Seiner Berechnung nach würde er den Hochsitz nicht erreichen.
Er schnallte den Rucksack wieder über und erhob sich von der schlichten Holzbank. Er streckte sich. Dabei rieben seine Hände über die Innenseite des Dachs hinweg. Er spannte die Muskeln, trat auf der Stelle und schaute sich den Moosbewuchs auf den Bohlen an.
Danach hob er den Kopf wieder an. Ein allerletzter Blick über die Brüstung.
Den Weg, den er nehmen musste, um nach Hause zu fahren, sah er nicht. Der versteckte sich hinter wildem Gestrüpp.
Dafür sah er etwas anderes.
Zwischen den Bäumen erschien plötzlich eine Gestalt. Sie bewegte sich recht langsam. Geduckt. Die Schritte vorsichtig gesetzt. Aus dem Hintergrund hervor war ein Junge ins Freie getreten und schien sich selbst und der Umgebung nicht zu trauen, denn er blieb stehen, um sich umzuschauen.
Die Geste wies Turner darauf hin, dass er es mit einem Fremden zu tun hatte. Der Junge mochte etwa zehn Jahre alt sein, kaum älter. Er musste gerannt sein. Die stoßweise ausgeatmeten Wolken vor seinen Lippen deuteten darauf hin, wie heftig er den Atem ausstieß.
Turner verhielt sich still. Was tat der Junge in dieser Gegend? Es kam ihm vor als hatte er Angst.
Ike verhielt sich still. Sein Gefühl sagte ihm, dass er jetzt gut aufpassen musste. Wichtig war, dass er sich richtig verhielt. Seiner Ansicht nach hatte der Junge ausgesehen, als befände er sich auf der Flucht. Nun schaute dieser sich um, wohin er sich noch wenden konnte.
Vor ihm gab es keine Verstecke mehr. Wenn er dorthinlief, würde er in das Wasser hineinlaufen, wobei er vorher noch einen Hang hätte
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