Edelherb: Roman (German Edition)
I. Ich werde in die Gesellschaft entlassen
»Komm herein, Anya, nimm Platz! Wir befinden uns in einer besonderen Situation«, begrüßte mich Evelyn Cobrawick und öffnete ihre rotgeschminkten Lippen, so dass man einen Streifen gelber Zähne blitzen sah. Sollte das ein Lächeln sein? Ich wollte es doch nicht hoffen. Meine Mitinsassinnen in der Erziehungsanstalt Liberty waren übereinstimmend der Meinung, dass Mrs. Cobrawick am gefährlichsten war, wenn sie lächelte.
Es war der Abend vor meiner Entlassung; ich war in die Räume der Anstaltsleiterin bestellt worden. Durch peinliche Befolgung aller Vorschriften – bis auf eine, bis auf einmal – war es mir gelungen, dieser Frau den gesamten Sommer über aus dem Weg zu gehen. »Eine besondere …?«, setzte ich an.
Mrs. Cobrawick unterbrach mich. »Weißt du, was mir an meiner Arbeit am besten gefällt? Die Mädchen. Zuzusehen, wie sie erwachsen werden und anschließend ein besseres Leben führen. Zu wissen, dass
ich
einen kleinen Anteil an dieser Resozialisierung hatte. Ich habe wirklich das Gefühl, Tausende von Töchtern zu haben. Das entschädigt mich fast dafür, dass der verstorbene Mr. Cobrawick und ich nicht mit eigenen Kindern gesegnet waren.«
Ich wusste nicht genau, wie ich auf diese Bemerkung reagieren sollte. »Sie sagten gerade, wir befänden uns in einer besonderen Situation?«
»Der Reihe nach, Anya. Ich komme gleich dazu. Ich … weißt du, es tut mir sehr leid, dass wir uns unter diesen Umständen kennengelernt haben. Ich glaube, du hast möglicherweise einen falschen Eindruck von mir bekommen. Die Maßnahmen, die ich im vergangenen Herbst ergriff, mögen dir damals überzogen erschienen sein, dabei sollten sie dir nur helfen, dich an das Leben in Liberty anzupassen. Und wahrscheinlich wirst du mir zustimmen, dass mein Verhalten absolut angemessen war, denn sieh nur, was für einen herrlichen Sommer du hier nun verbracht hast! Du warst gefügig, gehorsam, in jeder Hinsicht eine Vorzeigeinsassin. Man käme kaum auf den Gedanken, dass du aus einem so kriminellen Umfeld stammst.«
Ich wusste, dass das als Kompliment gemeint war. »Danke«, erwiderte ich und warf einen kurzen Blick aus Mrs. Cobrawicks Fenster. Die Abendluft war klar, so gerade konnte ich die Spitze von Manhattan erkennen. Nur noch achtzehn Stunden, dann wäre ich zu Hause.
»Sehr gern geschehen. Ich bin zuversichtlich, dass dein Aufenthalt in Liberty dir bei deinen zukünftigen Aufgaben zugutekommen wird. Was uns zu unserer besonderen Situation bringt.«
Ich schaute sie an. Es wäre mir sehr lieb gewesen, wenn sie nicht von »unserer« Situation gesprochen hätte.
»Im August hattest du Besuch«, begann sie. »Von einem jungen Mann.«
Ich log und behauptete, ich wisse nicht, von wem sie spreche.
»Von dem jungen Delacroix«, sagte sie.
»Stimmt. Ich war letztes Jahr mit ihm zusammen, aber das ist jetzt vorbei.«
»Die Wärterin behauptete damals, du hättest ihn geküsst.« Mrs. Cobrawick blickte mir prüfend in die Augen. »Zweimal.«
»Das hätte ich nicht tun sollen. Er war angeschossen worden, wie Sie vermutlich aus meiner Akte wissen, und ich war wohl unglaublich gerührt, als ich sah, dass es ihm wieder besserging. Ich entschuldige mich dafür, Mrs. Cobrawick.«
»Ja, du hast gegen die Vorschriften verstoßen«, entgegnete sie. »Aber dein Vergehen ist verständlich, finde ich. Es war menschlich, man kann darüber hinwegsehen. Es wundert dich bestimmt, dass ein alter Drachen wie ich so was sagt, aber auch ich habe Gefühle, Anya.
Bevor du im Juni nach Liberty kamst, erhielt ich vom amtierenden Staatsanwalt Charles Delacroix sehr genaue Anweisungen, was den Umgang mit dir hier anging. Willst du wissen, wie sie lauteten?«
Da war ich mir nicht sicher, doch ich nickte trotzdem.
»Es gab nur drei Regeln. Zum einen sollte ich jeden unnötigen persönlichen Kontakt zu Anya Balanchine vermeiden. Du kannst wohl nicht abstreiten, dass ich mich buchstabengetreu daran gehalten habe.«
Das erklärte, warum mein Aufenthalt relativ friedlich verlaufen war. Wenn ich Charles Delacroix jemals wiedersehen sollte, wozu ich hoffentlich keinen Grund hatte, müsste ich mich sicherlich bei ihm bedanken.
»Die zweite Vorschrift war, dass Anya Balanchine unter keinen Umständen in den Keller geschickt werden sollte.«
»Und die dritte?«, fragte ich.
»Die dritte lautete, dass ich den Staatsanwalt unverzüglich zu benachrichtigen hätte, falls sein Sohn dich besuchen würde.
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