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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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erwarten, die großartige Anya kennenzulernen.«
    Ich erinnerte sie daran, dass wir uns ja längst kennengelernt hatten.
    »Auf der Hochzeit? Aber das war ja nur sehr flüchtig«, protestierte sie. »Ich möchte dich richtig kennen, Anya.« Mit ihren tiefdunklen Augen schaute sie mich an.
    Ich fragte sie, was sie bisher von mir halten würde.
    »Der einzige Eindruck, den ich bisher von dir haben kann, ist äußerlich, und äußerlich bist du wirklich attraktiv, nur hast du wahnsinnig große Füße«, erklärte Sophia.
    »Was hat ein äußerer Eindruck schon zu besagen?«
    »Das behauptest du nur, weil du hübsch bist«, entgegnete sie. »Ich kann dir versichern, dass er sehr wichtig ist.«
    Ich fand, Sophia Balanchine sei eine seltsame Frau.
    »Warst du mal mit Yuji zusammen?«, wollte ich wissen.
    Sie lachte wieder. »Fragst du mich gerade, ob ich deine Nebenbuhlerin bin, Anya? Ich bin eine verheiratete Frau, vergiss das nicht!«
    »Nein, da ist nichts zwischen Yuji und mir.« Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. »Kam mir nur so in den Sinn. Tut mir leid, wenn das unhöflich war«, sagte ich.
    Sie schüttelte den Kopf, doch hatte sie ein Lächeln auf den Lippen. »Das ist eine sehr amerikanische Frage«, sagte sie. Ich nahm an, das war als Beleidigung gemeint. »Ich habe Yuji sehr gern. Und alles, was ihn betrifft, betrifft auch mich. Damit will ich sagen, dass du und ich hoffentlich sehr gute Freundinnen werden.«
    Meine Schwester und Sophias Mann kamen zu uns in die Küche. »Meine kluge kleine Cousine sagt, sie müsse zum Lernen nach Hause«, teilte Mickey uns mit. »Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht noch meinen Vater besuchen willst, Anya, bevor ihr aufbrecht.«
     
    »Wenn du nächste Woche die Angelegenheit mit der Schule geklärt hast, kommst du zu mir«, sagte Mickey, als wir die zwei Treppen zu dem Stockwerk hinaufstiegen, wo mein Onkel Yuri im Sterben lag. »Im Sommer hat er einen zweiten Schlaganfall gehabt, man kann ihn nur sehr schlecht verstehen«, fuhr Mickey fort. »Vielleicht ist er gar nicht wach, und wenn, erkennt er dich möglicherweise nicht. Die Ärzte geben ihm so viele verschiedene Medikamente.«
    Ich war den Umgang mit Sterbenden und Kranken gewöhnt.
    Die Gardinen waren vorgezogen, im Zimmer roch es süßlich, so wie bei Nana im Jahr vor ihrem Tod. Yuris Augen waren geöffnet, und als sie mich erblickten, schienen sie aufzuleuchten. Er streckte mir einen Arm entgegen. »Aaaanya«, sprach er mich mit schwerer Zunge an. Als ich näher kam, erkannte ich, dass die eine Hälfte seines Gesichts gelähmt und eine seiner Hände permanent zur Faust geballt war. Mit der gesunden Hand wedelte er Mickey und die Krankenschwester fort, die ebenfalls im Zimmer war. »Weeeg! Aaaalleiiii…«
    Mickey übersetzte für mich: »Dad sagt, er möchte mit dir allein reden.«
    Ich setzte mich auf den Stuhl neben Onkel Yuris Bett. »Aaanya.« Seine Lippen arbeiteten heftig. »Aaanya, geeee tsuuuu hekkkkk.«
    »Tut mir leid, Onkel Yuri. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll.«
    »Tsuuuuu hekkkkkk.« Sein Speichel sprühte mir ins Gesicht, aber ich wollte ihn nicht wegwischen und meinen Onkel damit beleidigen. »Meiiii aaaame junnnn. Tsuuuu schekkkk. Schekkkkk!«
    Ich hatte größte Mühe, ihn zu verstehen. Ich schüttelte den Kopf. Neben dem Bett lag ein Tablet. Ich legte ihn vor den Kranken. »Kannst du es vielleicht schreiben?«
    Yuri nickte. Eine Weile war er damit beschäftigt, mit seinem Finger über den Tablet zu fahren, doch als ich daraufschaute, erkannte ich lediglich Gekritzel. »Es tut mir leid, Onkel Yuri. Sollen wir vielleicht Mickey holen? Er versteht dich besser als ich.«
    Heftig schüttelte er den Kopf. Dann nickte er. »Aaanya, offiiiiia oooo noooo!« Er packte nach meiner Hand und führte sie an sein Herz. Wieder schüttelte er den Kopf. Er schwitzte, Tränen der Enttäuschung traten ihm in die Augen. »Liiiiebe.«
    »Liebe?«, fragte ich. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was er mir mitteilen wollte, doch er nickte mit so einer Erleichterung, weil ich zumindest dieses eine Wort verstanden hatte. Mit der freien Hand nahm ich ein Taschentuch vom Nachttisch und tupfte ihm damit die Stirn ab.
    »Liiiiebe«, wiederholte er. »Paaaaah.«
    Ich spürte, wie seine Hand schlaff wurde und sich sein Körper entspannte. Zuerst hatte ich Angst, er sei gestorben, doch dann merkte ich, dass er lediglich eingeschlafen war. Ich legte ihm seine Hand auf die Brust und schlüpfte aus dem Zimmer,

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