Edelherb: Roman (German Edition)
dass die anderen höchstwahrscheinlich dieselben Einwände gegen mich haben wie Leary?«
Er dachte länger darüber nach. »Ich kann keine Gedanken lesen und bin natürlich anderer Meinung, aber ja, das könnte schon sein.«
»Vielleicht hatte dieser Hippie-Rektor ja recht«, sagte Mr. Kipling. »Du könntest ein Jahr Pause einlegen …«
»Aber ich will kein Jahr Pause machen!«, rief ich. Das hieße, ich wäre bei meinem Schulabschluss fast neunzehn, das war gefährlich nah an zwanzig, also uralt. »Ich will mit allen anderen zusammen fertig werden.«
»Dann müssen wir uns nach Schulen außerhalb von New York umsehen«, schlug Simon Green vor. »Dort wissen die Leute nicht so genau, wer du bist. Internate in Europa, Hochschul-Vorbereitungskurse oder militärische Einrichtungen.«
»Eine Militärschule? Ich …« Ich konnte den Gedanken nicht einmal zu Ende führen.
»Simon, Anya wird auf keine Militärschule gehen«, sagte Mr. Kipling sanft.
»Ich habe nur Vorschläge gesammelt«, entschuldigte sich Simon Green. »Ich dachte, eine Militärschule könnte etwas großzügiger mit der Zulassung sein, auch wenn das Halbjahr schon begonnen hat. Selbst in Anbetracht von Anyas … Vergangenheit.«
Meine Vergangenheit. Vielleicht war es naiv von mir gewesen anzunehmen, dass das Schlimmste überstanden sein würde, wenn ich meine Strafe in Liberty abgesessen hatte. Das erwies sich nun als falsch. Ich ging ans Fenster. Von Kipling & Sons hatte man einen Blick auf den Madison Square Park. Nach Einbruch der Dunkelheit trieben sich dort die Schokoladendealer herum. Als ich klein war, hatte mein Vater mich dorthin mitgenommen. Man bekam dort so gut wie jede Art von Schokolade – belgische, zartbittere, Kochschokolade und natürlich die von Balanchine. Damals hatte ich auf der Welt nichts lieber gemocht als Schokolade, es war die Zeit, bevor sie mein Leben zerstörte und mir alle nahm, die ich liebte. Ich drückte die Schläfe an die Fensterscheibe. »Ich hasse Schokolade«, flüsterte ich.
Simon Green legte mir die Hand auf die Schulter. »Sag so was nicht, Anya«, mahnte er sanft.
»Warum denn nicht? Schokolade ist braun und hässlich, also ästhetisch wenig ansprechend. Sie ist ungesund und verboten. Wenn sie gut ist, ist sie bitter; wenn sie nichts kostet, ist sie zu süß. Ich kann ehrlich nicht verstehen, warum die Leute so verrückt danach sind. Wenn ich morgen aufwachen würde und es gäbe keine Schokolade mehr auf der Welt, wäre ich ein glücklicherer Mensch.«
Mr. Kipling legte seine Hand auf meine andere Schulter. »Von mir aus kannst du Schokolade momentan ruhig hassen, wenn du möchtest. Aber daraus würde ich keinen Grundsatz machen. Dein Großvater war der Inbegriff von Schokolade. Dein Vater war Schokolade. Und du, mein Mädchen, bist auch Schokolade.«
Ich drehte mich zu meinen Anwälten um. »Prüft alle Möglichkeiten, was Schulen angeht, aber behaltet dabei im Auge, dass ich Natty nicht allein lassen kann. Wenn wir nichts finden, suche ich mir vielleicht einen Job.«
»Einen Job?«, fragte Simon Green. »Was willst du denn machen?«
»Keine Ahnung.« Ich sagte, wir würden uns später in der Woche noch mal unterhalten, dann steuerte ich auf die Tür zu.
Ich wartete an der Bushaltestelle, als Simon Green mir nachgelaufen kam. »Mr. Kipling sagt, ich soll dich nach Hause begleiten.«
Ich sagte ihm, ich würde lieber alleine sein.
»Mr. Kipling macht sich sehr große Sorgen um dich, Anya«, erklärte Simon Green.
»Es geht mir gut.«
»Ich bekomme Ärger, wenn ich dich nicht begleite.«
Der Bus fuhr vor. An der Seite befand sich ein Monitor, auf dem Werbung lief: » CHARLES DELACROIX : LEITENDER STAATSANWALT «. Sein Gesicht, das an einen alternden Superhelden erinnerte, rückte in den Hintergrund, und der Wahlkampfslogan erschien: »Große Städte brauchen starke Führung.« Wenn ich so was las, wurde mir schlecht. Am liebsten hätte ich auf den nächsten Bus gewartet, aber die Fahrpläne waren unberechenbar. Ich würde mit dem Charles-Delacroix-Express vorliebnehmen müssen.
Im hinteren Teil des Busses setzte sich Simon Green neben mich. »Meinst du, Delacroix gewinnt die Wahl?«, fragte er.
»Darüber habe ich ehrlich gesagt noch nicht groß nachgedacht«, entgegnete ich.
»Aber ich dachte, du wärst so dick mit ihm befreundet«, scherzte Simon.
Ich konnte nicht darüber lachen.
»Ich glaube, der Wahlkampf ist härter, als er es sich vorgestellt hat. Aber ich finde den Mann
Weitere Kostenlose Bücher