Eden und Orion - Lichtjahre zu dir
Mittagspause hatte die gesamte weibliche Oberstufe nur noch ein Gesprächsthema: der Neue. Auf dem Weg zur Kantine schnappte ich einzelne Gesprächsfetzen auf:
»Er ist Kanadier.«
»Er kommt aus Südafrika.«
»Er scheint ein ziemlich guter Fußballspieler zu sein. Mr Tucker würde ihn wohl gern in der Schulmannschaft haben.«
»Hast du gewusst, dass er ein Tattoo hat?«
»Er wohnt mit seiner Freundin zusammen. Die soll eine ziemlich scharfe Blondine sein.«
»Er fährt einen Sportwagen.«
»Chloe Mason will sich mit ihm verabreden.«
Mein Termin bei der Beratungslehrerin hatte länger gedauert – als ich endlich in der Kantine ankam, war der große Ansturm längst vorbei. Es standen nur noch ein paar Nachzügler an der Kasse. Ungeduldig stellte ich mich an; in Gedanken war ich immer noch bei meinem Beratungsgespräch: Mrs Mingle war eine Frau mittleren Alters mit rotem Kraushaar und einer extravaganten Brille. Ihr Büro lag ziemlich versteckt und vor allem ziemlich abseits im ersten Stock des Verwaltungsgebäudes.
Als wir es uns in den beiden Sesseln bequem gemacht hatten und den Teller mit Schokoladenkeksen und unsere Teetassen auf dem Fußbänkchen zwischen uns abgestellt hatten, kam sie gleich zur Sache. »So, Eden, dann schieß mal los: Wo siehst du dich in der Zukunft?«, fragte sie mich enthusiastisch.
Ehrlich gesagt hatte ich mich bisher noch nie wirklich mit irgendwelchen Zukunftsplänen auseinandergesetzt. Von einer Lebensplanung ganz zu schweigen. Ich dachte nur bis zu den Prüfungen im Sommer und verschwendete maximal einen kurzen Gedanken daran, dass ich ab dem Herbst ein paar Straßen weiter aufs College gehen würde. Unter der Woche würde ich mich aufs Lernen konzentrieren, nahm ich mir dann vor, und samstagabends auf Partys gehen. Nicht auf die Art von Feten, die Amy gefallen (wo man aus billigen Pastikbechern Cider oder Julischkas kippt und sich in dunklen Ecken von irgendwelchen Typen aus der Schule befummeln lässt), sondern auf Feste, bei denen Wein aus richtigen Gläsern getrunken wird und man sich über Literatur und Politik unterhält und den Anspruch hat, die Welt zu verbessern.
»Stell dir dich mit neunzig vor«, sagte Mrs Mingle und tunkte einen Schokoladenkeks in ihren Tee. »Stell dir vor, du blickst auf dein Leben zurück und ziehst Bilanz. Was wirst du dann zu erzählen haben?« Sie hielt den Keks immer noch in den Tee, und ich wartete nur darauf, dass er langsam aufweichte und zerfiel.
Ich versuchte, mir mich als alte Frau vorzustellen, grauhaarig und faltig und am Ende meines Lebens angekommen. Und da wusste ich plötzlich, was ich wollte: nicht viele schöne Kleinigkeiten, sondern das große Ganze. Ich wünschte mir mein Leben wie einen dicken, opulent erzählten Roman, in dem so viel passiert, dass die Schrift auf den einzelnen Seiten ganz klein sein muss und die Seitenränder furchtbar eng gesetzt sind. Ich wünschte mir, dass ich in meinen Handlungen mutig und in meinen Entscheidungen risikofreudig sein würde. Ich wollte in meinem Leben etwas bewegen und mich verlieben. Die Menschen um mich herum sollten schillernde Figuren sein und die Landschaften, in denen ich mich bewegen würde, exotisch. Ich wünschte mir mein Leben als Stoff, aus dem Bestseller gemacht sind.
Das einzige Problem an diesem grandiosen Plan war, dass ich keine glamourösen, schillernden Figuren kannte, dass ich noch nie an irgendwelchen exotischen Orten gewesen war und dass mir vor allem eines fehlte: Mut. Wie ich da im Sessel in Mrs Mingles Büro saß, dämmerte mir, dass mein Leben in ein halbes Notizbuch passen würde und ich der Nachwelt nicht mehr als ein paar Einkaufslisten und Anweisungen für den Fensterputzer hinterlassen würde, wenn ich nicht bald etwas unternahm.
»Und was soll das sein?«, sagte eine leise Männerstimme neben mir.
Überrascht fuhr ich herum. Es war der Neue. Er betrachtete stirnrunzelnd das Tagesgericht an der Essensausgabe.
Ich zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, weiß ich auch nicht. Soll wahrscheinlich ein Curry sein.«
»Und das?« Er zeigte auf die Pizza. »Das Runde mit dem roten Zeugs drauf?« Er hatte einen leichten Akzent, den ich allerdings nicht mit Sicherheit einordnen konnte. Ein australischer Einschlag vielleicht.
»Meinst du die Pizza?«
Er nickte. »Was ist das obendrauf?«
Das Kantinenessen war meistens eine undefinierbare Pampe, aber bei Pizza konnte man nun wirklich nicht viel falsch machen. Ich sah ihn misstrauisch an. Sein Humor
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