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Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Titel: Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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unregelmäßiger Form und sahen »eigentlich ganz so aus wie Blei, das in geschmolzenem Zustand auf den Boden gegossen wurde, um abzukühlen«. Nicht einer der Beamten ließ es sich einfallen, dies Metall für etwas anderes als Messing zu halten. Der Gedanke, daß es Gold sein könne, kam ihnen natürlich gar nicht; und ihr Erstaunen ist wohl zu begreifen, als es andern Tags in ganz Bremen bekannt wurde, daß die »Menge Messing«, die sie so verächtlich zum Polizeiamt geschafft hatten, ohne sich die Mühe zu machen, sich eine Handvoll anzueignen, nicht nur Gold – wirkliches Gold – war, sondern reineres Gold, als je gemünzt worden ist – kurz: ganz reines Gold, ohne die geringste nachweisbare Beimischung!
    Ich brauche nicht die Einzelheiten der Eingeständnisse Kempelens (soweit er sie machte) und seiner Freilassung zu erörtern; sie sind der Öffentlichkeit bekannt. Daß er im Geiste und in der Tat – wenn auch nicht buchstäblich – das uralte Problem vom Stein der Weisen gelöst hat, kann kein Mensch mit gesunden Sinnen mehr bezweifeln. Die Ansichten Aragos haben natürlich ihre Berechtigung; aber er ist keineswegs zuverlässig, und was er von Bismuth sagt, muß cum grano salis genommen werden. Die nackte Wahrheit ist, daß bis jetzt alle Analyse versagt hat; und solange Kempelen uns nicht selbst den Schlüssel zu dem von ihm aufgegebenen Rätsel zeigt, ist es mehr als wahrscheinlich, daß die Angelegenheit jahrelang im statu quo verbleibt. Alles, was man bis jetzt weiß, ist: »daß reines Gold leicht und nach Wunsch hergestellt werden kann, und zwar aus Blei in Verbindung mit gewissen andern in Art und Menge unbekannten Substanzen.«
    Die theoretische Berechnung beschäftigt sich natürlich mit den sofortigen wie auch den späteren Resultaten dieser Entdeckung – einer Entdeckung, der wohl kein denkender Mensch eine gewisse Einwirkung auf die jüngste Aufschließung Kaliforniens als Goldland absprechen wird; und diese Betrachtung führt uns unweigerlich zu einer andern – der Unzeitgemäßheit der Entdeckung Kempelens. Wenn bisher viele davon abgehalten wurden, nach Kalifornien zu gehen – einfach durch die Überlegung, daß Gold infolge seines reichlichen Vorhandenseins in jenen Minen nun notgedrungen im Werte sinken müsse und die weite, gefahrvolle Suche daher vielleicht nicht einmal lohnend sei – welch eine Bewegung wird jetzt die Gemüter derer erfassen, die auszuwandern beabsichtigen, und vor allem derer, die bereits dort sind im Goldlande? Was werden sie zu der ungeheuren Entdeckung Kempelens sagen? Einer Entdeckung, die in so beredten Beweisen feststellt, daß, abgesehen von ihrer wertvollen Verwendbarkeit zu Industriezwecken (wie immer diese Verwendbarkeit auch sein mag), Gold nun keinen größeren Wert mehr haben wird als Blei – und weit geringeren Wert als Silber (denn es ist nicht anzunehmen, daß Kempelen sein Geheimnis lange bewahren kann). In der Tat ist es außerordentlich schwierig, die Folgen der Entdeckung vorauszubemessen; eines aber kann festgestellt werden: daß die Bekanntgabe der Entdeckung vor sechs Monaten die Auswanderung nach Kalifornien voraussichtlich äußerst stark beeinflußt haben würde.
    In Europa hat sich bis jetzt als bemerkenswerteste Folge eine Steigerung der Bleipreise um hundert und der Silberpreise um fünfundzwanzig Prozent ergeben.

Schatten

    Wahrlich! Ob ich auch wandele durch das Tal des Schattens...
    Psalm Davids

    Ihr, die Ihr lest, seid noch unter den Lebendigen; aber ich, der ich schreibe, werde schon lange meinen Weg ins Reich der Schatten gegangen sein. Denn wahrlich, seltsame Dinge werden geschehen, und Geheimes wird offenbar werden – und viele Jahrhunderte werden vergehen, ehe einst Menschen diese Aufzeichnungen lesen. Und wenn sie gelesen haben, werden einige nicht glauben, werden einige zweifeln, und nur wenige werden über die Schriftzüge, die hier mit eisernem Griffel eingegraben sind, ernsthaft nachsinnen.
    Das Jahr war ein Jahr des Schreckens gewesen, ein Jahr unaussprechlichen, schaudervollen Entsetzens. Denn viele Wunder und Zeichen waren geschehen, und über alles Land und alles Meer hielt die Pest ihre schwarzen Schwingen gebreitet. Und denen, welche die Gestirne deuteten, war es nicht unbekannt, daß die Himmel Unheil verkündeten; und ich, der Grieche Oinos, erkannte mit manchen anderen, daß das siebenhundertvierundneunzigste Jahr gekommen war, in dem sich beim Aufgange des Aries der Planet Jupiter mit dem roten Ringe des

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