Edvard - Mein Leben, meine Geheimnisse
Jason gar keine Lebensmittelvergiftung hatte, sondern eine schwere Allergie. Die Ärzte hätten die ganze Nacht um sein Leben gekämpft, aber vergeblich.
Constanze will jetzt von James wissen, wann und wo die Beerdigung ist.
Donnerstag, 25.8., 23:59 Uhr
Ich habe ein bisschen gegoogelt. Leider kommt das mit der Allergie, die man für eine Lebensmittelvergiftung hält, nicht ganz hin. Die Symptome sind dann doch zu unterschiedlich. Man müsste schon selten dämlich sein, um sich da zu irren. Hoffentlich merkt Constanze nichts.
Freitag, 26.8., 09:41 Uhr
Alle achtundneunzig Facebook-Freunde von Jason wollen zu seiner Beerdigung kommen.
Ich habe als Jasons Bruder James gepostet, dass nur die engste Familie an der Beerdigung teilnehmen wird.
Freitag 26.8., 09:45 Uhr
Ein Klugscheißer aus New York hat auf Jasons Profil geschrieben, dass man schon selten dämlich sein muss, um eine Lebensmittelvergiftung nicht von einer Fischallergie unterscheiden zu können. Er legt James nahe, die Ärzte zu verklagen und bietet ihm an, mit seinem Vater zu reden, der sich als Anwalt auf Kunstfehlerprozesse spezialisiert hat.
Constanze hat den Eintrag kommentiert und will nun wissen, in welchem Krankenhaus Jason war, um den Fall an die Presse zu bringen. Ihr Vater hätte da gute Beziehungen. (Constanzes Vater ist der Chefredakteur des Kulturteils, und Papa sagt immer: »Da haben sich die beiden Richtigen gefunden.« Weil er ständig über Constanzes Mutter in der Zeitung schreibt, klar.)
Freitag, 26.8., 09:58 Uhr
Henk hat auf seinem Facebook-Profil ein Foto davon hochgeladen, wie ich in einer orangefarbenen Sicherheitsweste den Randstreifen vollkotze. Ich habe es eben gesehen. Er hat zweihundertdreiundachtzig »Gefällt mir«-Klicks dafür bekommen. Constanze hat auch »Gefällt mir« geklickt. Die hundertfünfzig Kommentare drehen sich vor allem darum, wo ich wohl meinen Urlaub verbracht habe. (Henk kam gerade mit seinen Eltern aus Schweden, wo sie gesegelt sind. Warum müssen die ausgerechnet dieses Jahr nach Schweden und nicht wie sonst nach Griechenland?) Die meisten tippen auf Rügen. Ich kann mich nie wieder in der Schule blicken lassen. Wir waren nicht mal in der Nähe von Rügen, und Rügen scheint schon der totale Loserurlaub zu sein.
Freitag, 26.8., 12:28 Uhr
Gerade den Schreck des Tages bekommen: Es klingelt, und draußen vor der Tür kläfft der dämliche Pudel von dem Alten nebenan. Ich schau also durchs Fenster vom Gästeklo, und da steht tatsächlich der Opa mit der Töle und hat eine Plastiktüte in der Hand. Ich weiß nicht, ob ich ihm aufmachen soll. Er klingelt immer weiter, klopft auch noch mit der Faust gegen die Tür und ruft »Hallo? Hallo! Ich weiß doch, dass du da bist! Ich hab gehört, wie du die Treppe runtergerannt bist!«
Mein Fehler. Ich mache also auf. Wir starren uns an und sagen kein Wort. Dann hält er mir die Plastiktüte unter die Nase, sodass ich sehen kann, was drin ist: ein Karton.
»Jetzt nimm endlich«, sagt er.
Ich so: »Warum?«
Er verdreht die Augen und lässt die Tüte vor meine Füße fallen. Dreht sich um, zerrt den Pudel hinter sich her und verschwindet.
Ich schnappe mir die Tüte und nehme sie mit rein. Weil ich misstrauisch bin und dem Alten alles zutraue, gehe ich damit ins Bad, ziehe mir die Gummihandschuhe von der Putzfrau an und binde mir meinen Mundschutz vor (so einen, wie ihn die Japaner immer tragen und die Leute, die Angst vor Schweinegrippe und Vogelgrippe und Menschengrippe haben). ((Hab ich mir online bestellt, weil ich gehört habe, dass Constanze eine Kostümparty schmeißt mit dem Motto »Doktorspielchen«, aber dann hat sie mich doch nicht dazu eingeladen.)) Dann nehme ich vorsichtig die Schachtel aus der Tüte. Es ist ein Schuhkarton. Ich öffne ihn mit dem Stil von Papas Zahnbürste, um direkten Kontakt zu vermeiden, Handschuhe hin oder her.Ein bisschen fühle ich mich wie die Typen im Fernsehen, wenn sie Tatorte untersuchen oder Bomben entschärfen oder so was.
Ich weiß gar nicht genau, was ich erwartet habe. Wahrscheinlich so ziemlich alles von einem abgeschnittenen Pferdekopf (obwohl eine Schuhschachtel dafür ja eigentlich zu klein ist) über einen toten Vogel bis hin zu einem Haufen Pudelkacke. Mit neuen Sneakers habe ich jedenfalls nicht gerechnet. Sie sind fast so wie die, die ich mir gerade frisch eingesaut habe, nur schöner. Und die Größe stimmt auch. Ich probiere sie sofort an und will sie nie wieder ausziehen.
Es braucht ein paar Minuten,
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