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Die Grasharfe

Titel: Die Grasharfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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I

    W ann war es, daß ich zum ersten Male von der Grasharfe hörte? Lange vor jenem Herbst, als wir im Paternosterbaum lebten, also in einem früheren Herbst, und es war natürlich Dolly, die mir davon erzählte; niemand sonst hätte diesen Namen fnden können: die Grasharfe.
       Wenn du auf dem Kirchweg aus der Stadt hinausgehst, wirst du bald einen aufallenden Hügel mit knochenbleichen Tafeln und melancholisch wuchernden Blumen entdecken – das ist der Friedhof der Baptisten. Unsere Leute, die Talbos, die Fenwicks, sind dort begraben. Meine Mutter liegt neben meinem Vater, und die Gräber der Verwandten, zwanzig oder mehr, umgeben sie wie die eingesunkenen Wurzeln eines versteinerten Baumes. Unterhalb des Hügels ist ein Feld von hohem Präriegras, dessen Farbe mit den Jahreszeiten wechselt. Im Herbst, im späten September gehe hin, um es zu sehen, wenn es sich rötet wie die untergehende Sonne, wenn Scharlachschatten wie ein Glutschein darüberhuschen und die Herbstwinde seufzend aus seinen dürren Halmen Menschentöne lokken – eine Harfe von Stimmen.
    Jenseits des Feldes beginnt die Düsternis der Flußwälder. Es muß an solch einem Septembertag gewesen sein, als wir in den Wäldern Wurzeln sammelten, daß Dolly sagte: „Hörst du's? Das ist die Grasharfe, die immer eine Geschichte erzählt – sie weiß die Geschichten aller Leute dort vom Hügel, aller, die jemals lebten, und wenn wir tot sind, wird sie auch die unsere erzählen."
    Nach dem Tod meiner Mutter brachte mich mein Vater, ein Reisender, bei seinen Kusinen unter, Verena und Dolly Talbo, zwei unverheirateten Damen, die Schwestern waren. Vorher war mir nicht erlaubt gewesen, ihr Haus zu betreten. Aus Gründen, die nie ganz deutlich wurden, verkehrten Verena und mein Vater nicht miteinander. Möglicherweise hatte Papa einmal Geld von Verena entleihen wollen, und sie hatte das abgelehnt; oder vielleicht hatte sie ihm welches geliehen, und er gab es nie zurück. Man konnte ziemlich sicher sein, daß die Verstimmung vom Geld herrührte, denn an nichts lag ihnen so viel wie an Geld, besonders Verena, die die reichste Frau der Stadt war. Der Drugstore, der Konfektionsladen, eine Tankstelle, ein Kolonialwarengeschäf, ein Bürohaus, alles gehörte ihr, und das zusammenzubringen hatte sie nicht gerade leichtlebiger gemacht.
       Jedenfalls, Papa sagte, er würde ihr Haus nicht betreten. Er erzählte ganz schreckliche Dinge über die Damen Talbo. Eine der von ihm verbreiteten Geschichten, daß Verena Morphinistin sei, verstummte niemals, und der Hohn, den er über Miß Dolly Talbo ausgoß, war selbst meiner Mutter zuviel – sie meinte, er solle sich schämen, einen so gütigen und unbescholtenen Menschen derart zu verspotten.
       Ich glaube, sie liebten sich sehr, mein Vater und meine Mutter. Jedesmal, wenn er verreiste, um seine Kühlschränke zu verkaufen, brach sie in Tränen aus. Er heiratete sie, als sie sechzehn war; sie hat ihr dreißigstes Jahr nicht erlebt. An dem Nachmittag, als sie starb, riß sich Papa alle Kleider vom Leib und rannte nackt in den Hof, laut ihren Namen schreiend.
       Am Tag nach dem Begräbnis kam Verena ins Haus. Ich entsinne mich des Schreckens, mit dem ich sie den Weg heraufommen sah, eine gertenschlanke, passable Frau mit schindelartig geschichtetem meliertem Haar, mit schwarzen, beinahe männlichen Augenbrauen und einem zierlichen Mal auf der Wange. Sie öfnete die Haustür und trat geradeswegs in den Korridor. Seit dem Begräbnis hatte Papa Dinge zerschlagen, nicht aus Wut, sondern ruhig und bedachtsam. So trottete er, beispielsweise, in das Wohnzimmer, nahm eine chinesische Figur in die Hand, sann eine Zeitlang über sie nach und warf sie gegen die Wand. Der Flur und die Treppen waren übersät mit zerschmettertem Glas und zerbeulten Silbergegenständen. Ein zerfetztes Nachthemd meiner Mutter hing über dem Geländer.
       Verenas Blick schoß über das Trümmerfeld. „Eugen, ich wünsche dich zu sprechen", sagte sie in einem überlegenen, kalt prononcierten Ton, und Papa antwortete: „Ja, setze dich, Verena. Ich wußte, daß du kommen würdest."
       Am gleichen Nachmittag kam Dollys Freundin Catherine Creek herüber und packte meine Kleider, und Papa fuhr mich zu dem eindrucksvollen, düsteren Haus an der Talbostraße. Als ich aus dem Wagen stieg, versuchte er mich zu umfassen, aber ich war durch ihn eingeschüchtert und wand mich aus seinen Armen. Jetzt tut es mir leid, daß wir uns nicht umarmten.

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