Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)
amerikanische Soziologe David Riesman in seinem Weltbestseller »Die einsame Masse« beklagt, dass in der modernen Gesellschaft jeder Mensch zu einem Radar-Operateur seines eigenen Lebens werde. Nicht mehr aus seinem Inneren geleitet, sondern von außen, ständig gezwungen, Signale anderer aufzufangen, und ständig sein Verhalten den Gegebenheiten neu anzupassen. 15 Jetzt drehte man seine Kritik um: Alles ist logisch, wenn man erkennt, dass die Welt mit einem Poker spielt und jeder gewinnen will.
Es klang sehr überzeugend. Es wurde, als die ersten Informationen des neuen Denkens an die Öffentlichkeit sickerten, sogar zu einem Hype. Im Laufe weniger Jahre hatte sich die » RAND Corporation«, die Organisation, der die Wissenschaftler angehörten, die die Radarcrews analysierten, unter den Schatten militärischer Geheimhaltung zur mächtigsten Denkfabrik der Vereinigten Staaten entwickelt. Es ging nicht mehr nur um die Sowjetunion. Es ging um alle.
Man hat die Geburt dieses Denkens einen »der größten Ein schnitte in der intellektuellen Geschichte des Westens« genannt. 16 Auf alle Fälle ist er einer der unterschätztesten. Denn nur, wenn man als Prämisse akzeptiert, dass jeder nur aus Eigennutz handelt, kann man die ganze Komplexität menschlichen Verhaltens in die Sprache der Mathematik übersetzen. Man kann Formeln schreiben, Spielzüge berechnen, Verhandlungen und Kompromisse modellieren und Menschen eine neue »Rationalität« antrainieren, die sie wie in Trance automatisch beherrschen – eine Operation, die unmöglich ist, wenn man davon ausgeht, dass jeder Mensch nur aus den Besonderheiten seines eigenen Charakters zu verstehen ist.
Entscheidend für den Durchbruch im Weltmaßstab war, dass man diese Berechnungen jetzt blitzschnell und bald schon in Echtzeit ausführen konnte. Mit den ersten Computern warteten geniale Werkzeuge nur darauf, mit den Formeln für Menschen gefüttert zu werden. Rechenmaschinen sind schlecht in Psychologie, aber sehr gut darin, Profitmaximierungen zu berechnen. Die Ökonomen fingen an, die komplexesten Entscheidungs situationen mithilfe von Computern zu kalkulieren. Auch das wurde zuerst, finanziell gut vom Militär versorgt, an der Sowjetunion ausprobiert.
Computer, die Signale auf den Radarschirmen analysierten, sagten ständig wie auf einer militärischen Börse die nächsten Züge des sowjetischen Gegners voraus und wurden immer besser darin. Was tut er? Was plant er? Was verbirgt er? Aber die Russen waren ebenso paranoid wie man selbst. Also landete man im Nu bei: Was tut er, wenn er weiß, dass ich weiß, was er plant? Die Rechner erzogen die Menschen, die mit ihnen arbeiteten. Sie demonstrierten, wie man in der modernen Welt zu denken hatte. Sie führten es ständig vor. Sie verschmolzen mit menschlichem Denken so sehr, dass schon bald kein Militärstratege glaubte, dass man überhaupt anders denken konnte.
»Lerne vernünftig zu handeln« hieß: Lerne so zu denken und zu handeln, dass du immer nur von dem Eigeninteresse aller ausgehst. Und die Operation funktioniert selbst bei Verhalten, das uneigennützig erscheint: Man kann lange darüber rätseln, warum einem ein Wildfremder 10 Euro schenkt (oder die Russen eine Abrüstungsinitiative starten). Erst wenn man versteht, so die Lehre, dass er sich selbst damit einen Vorteil verschaffen will, ist man imstande, ihn zu verstehen.
Doch dieses Denkmodell blieb bald nicht mehr auf Rüstungs- und Kriegsstrategien beschränkt. Es war nicht nur ein Werkzeug. Es entwickelte sich zu einer schleichenden, jahrzehntelangen Schulung in Egoismus. Der Computer führte vor, wie erstaunlich weit man damit kommen konnte, wenn man diese Motivation allen Berechnungen zugrunde legt. Er war eine unschuldige Maschine. Doch das, womit man ihn gefüttert hatte, entwickelte sich, wie man zu Recht bemerkt hat, von einem Trainingssystem zu einem »System der Indoktrination«. 17
Kaum einer hätte in jenen frostigen Fünfzigerjahren geglaubt, dass das Menschenbild, das hier geboren wurde, heute, ein halbes Jahrhundert später, da es längst keine Sowjetunion mehr gibt, die Welt in Angst und Schrecken versetzt und soziale Beziehungen fundamental verändert. Womit wir heute zu tun haben, ist nicht das Werk einiger egoistischer Hedgefonds-Manager oder gieriger Investmentbanker. Sie sind nur ein Symptom. Damals, in der Kälte des Wettrüstens und nicht erst in den ökonomischen Krisen des 21. Jahrhunderts, ist etwas entfesselt worden, dessen
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