Ehrenhüter
dem Zimmer, die gerade Besuch von ihrer Tochter und ihrer Enkelin hatte. Besma Cetin schien fest zu schlafen.
Petersen ging an das Kopfende und sprach sie behutsam an. Aber sie reagierte nicht. Auch als Steenhoff es etwas lauter versuchte, atmete sie ruhig und gleichmäßig mit geschlossenen Augen weiter.
«Ach Gott, lassen Sie doch die arme Frau schlafen. Sie hat heute Nacht so viel geweint», mischte sich die Nachbarin ein. «Frau Cetin muss völlig erschöpft sein.»
Petersen und Steenhoff standen schon vor dem Fahrstuhl, als eine ältere Schwester hinter ihnen hereilte.
«Habe ich doch richtig gesehen», begrüßte sie die beiden. «Die nette junge Kommissarin mit ihrem Kollegen. Was macht Ihre Platzwunde?», wandte sie sich an Steenhoff. «Alles wieder gut verheilt?»
«Kennen wir uns?», fragte Steenhoff verblüfft.
«Ach, Tatjana!», sagte Navideh freudig überrascht und gab ihr die Hand.
«Sie wollten sicherlich gerade zu Frau Cetin, nicht wahr?», kam die Schwester sofort zur Sache. Navideh nickte zustimmend.
«Sie ist hier eigentlich völlig falsch. Die Frau müsste in psychotherapeutische Behandlung. Meines Erachtens sogar in stationäre Behandlung. Aber ich bin ja hier nur Krankenschwester …» Sie zögerte, dann gab sie sich einen Ruck. «Aber ich spreche Sie nicht wegen Besma Cetin an, sondern wegen ihrer Tochter.»
«Nilgün?», fragten Steenhoff und Petersen wie aus einem Munde.
«Nein, Saliha. Ihr Bruder hat sie am Wochenende geschlagen. Können Sie sich den nicht mal vorknöpfen?»
«Hat Saliha gesagt, warum?», erkundigte sich Steenhoff.
Tatjana schüttelte ungeduldig den Kopf. «Die Gründe sind mir egal. So ein Verhalten ist durch nichts gerechtfertigt!»
«Das sehen wir genauso», betonte Steenhoff. «Trotzdem kann uns das Motiv bei den Ermittlungen helfen.»
Tatjana dachte nur kurz nach. Dann sagte sie zögernd: «Der Vater und die Brüder … oder zumindest dieser Osman fürchten wohl, dass Saliha ihre Ehre durch ein falsches Verhalten aufs Spiel setzen könnte. So wie es die ältere Schwester getan hat. Zumindest nach Überzeugung der Männer. Mehr weiß ich leider nicht.»
Steenhoff bedankte sich, und sie fuhren mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss.
«So, jetzt nehmen wir uns erst Osman vor, dann Murat und Kemal Cetin und dann …» Er hielt Petersen die Tür und machte eine rhetorische Pause. «Dann fangen wir nochmal ganz von vorne an.»
Navideh blieb vor Überraschung so abrupt stehen, dass Steenhoff sie unbeabsichtigt anrempelte. Eine Sekunde lang waren sie sich wieder ganz nah. Ihre Blicke kreuzten sich.Sie wussten, dass sie dringend reden mussten. In Ruhe und ungestört.
«Später», sagte Petersen unvermittelt und ging als Erste einen Schritt zurück. Steenhoff fragte nicht nach.
Erst im Auto durchbrach Navideh ihr Schweigen. «Warum willst du, dass wir jetzt nochmal von vorn anfangen?»
«Weil mir Wessel vorhin eine kurze Mail aus Berlin geschickt hat. Fabian Block und er haben nach wie vor keinerlei Hinweise, dass die beiden Familien der Opfer sich kennen oder jemals etwas miteinander zu tun hatten. Die einen sind zudem Kurden, die anderen Türken. Sie haben in Bremen in unterschiedlichen Moscheen verkehrt und in anderen Stadtteilen gewohnt. Die einzige Gemeinsamkeit ist, dass ihre Töchter tot am Bunker gefunden wurden.»
«Und dass die Mädchen Tabus gebrochen haben», ergänzte Navideh.
Steenhoff zuckte gleichmütig mit den Achseln. «Wir können die Fallanalytiker nochmal bitten draufzugucken, aber ich fürchte, dass uns diese Idee nicht weiterbringt.»
«Und die unterschiedlichen Zeitangaben in den Stadtplänen von Murat, Osman und Kemal Cetin?»
«Dafür gibt es seit heute Morgen eine Erklärung.»
Petersen sah ihn fragend an. Steenhoff hatte am Vormittag einen der beiden Kontaktbeamten vom Gröpelinger Revier gebeten, dem Gemüseladen der Cetins einen Besuch abzustatten. Der Beamte sollte vor allem auf die Uhr über dem Verkaufstresen achten. Steenhoff war sich nicht sicher, ob er sich richtig erinnerte, aber die Uhr schien bei seinem letzten Besuch am Montagnachmittag falsch gegangen zu sein. Der Polizeibeamte hatte sofort eingewilligt und Steenhoff wenig später zurückgerufen. Tatsächlich ging die Uhr gut eine Stunde vor.
«Nach Aussage von Murat Cetin geht die Uhr schon seit einigen Wochen falsch. Sie gewinnt wohl ständig Zeit. Als Michael vor einigen Tagen Kemal Cetin gebeten hat, die Ortsangaben und Uhrzeiten in die Stadtpläne
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