Ehrenhüter
weglaufen.»
Steenhoff nickte. «Also, wo rennt ein Mädchen in ihrer Situation hin? An wen kann sie sich noch wenden? Wo kennt sie sich aus?»
«Sie ist in Panik, völlig verstört», tastete sich Navideh vor. «Sie flüchtet dorthin, wo sie sich sicher fühlt.»
«Ihre beste Freundin», schlug Block vor.
«Verwandte, denen sie vertraut», meldete sich Wessel zu Wort.
Steenhoff stand unvermittelt auf und ging auf den Computer zu. Als er die Maus berührte, erschien der Bildschirmschoner. Das Gerät war an! Steenhoff klickte auf «Verlauf» und überflog die Seite.
Mit einem Ruck drehte er sich um. «Roman wollte ihr helfen. Wir müssen die Bahnpolizei informieren. Möglich, dass sich Saliha auf dem Weg nach Berlin befindet.»
Eilig verteilte Steenhoff die Aufgaben. Wenige Minuten später waren auch die Fahrerinnen und Fahrer der Straßenbahnen und Busse informiert. Mit jedem Telefonat wurde das Netz, das sie über Bremen legten, dichter.
Was sie nicht ahnten, war, dass zur selben Zeit auch andere ihr Netz zusammenzogen.
Steenhoff zwang sich zur Ruhe. Mit mehreren Beamten durchsuchten sie Romans Zimmer. Aber sie fanden keine weiteren Anhaltspunkte. Schließlich nahm er Petersen beiseite.
«Lass uns nochmal versuchen, uns in das Mädchen hineinzuversetzen.»
Navideh schloss die Augen. Zu Steenhoffs Überraschung stand sie plötzlich auf und ging die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Er folgte ihr und beobachtete interessiert, wie siein die niedrige Kammer unter der Treppe kroch. Ohne weitere Erklärung schloss sie die demolierte Tür von innen.
Steenhoff blieb davor stehen. «Also, sie kommt mit ihrer gepackten Tasche hierher und sucht Hilfe …», begann er. «Roman lässt sie zur Tür rein … Er sucht für sie ein Mädchenprojekt in Berlin heraus. Aber dann muss sie sich verstecken.»
«Warum?», hörte er Navideh mit gedämpfter Stimme fragen.
«Warte», bat Steenhoff. Nach wenigen Minuten kam er aus dem Wohnzimmer zurück. «Frau Rodewaldt sagt, dass ihr Mann, nachdem Osman die Liste erstellt hatte, absolut keinerlei Kontakt mehr zu Nilgüns Familie wünschte. Als die Eltern zurückkommen, versteckt Roman Saliha daher vor seinem Vater.»
«Saliha sitzt im Dunkeln, ist unruhig und ängstlich. Und plötzlich ertasten ihre Hände in der Kammer ein Schmuckstück – den Ohrring mit dem herzförmigen Anhänger. Der Ohrring, der an dem Leichnam fehlte», fuhr Petersen fort.
«Die Erkenntnis trifft sie wie ein Schlag: Auch ihre Schwester war in der Kammer. Tot.» Steenhoff, der vor der Kammer stand, wartete.
Mit einem heftigen Stoß öffnete Petersen plötzlich die Tür, richtete sich so schnell sie konnte auf und rannte zum Hauseingang und schließlich hinaus ins Freie.
Steenhoff folgte ihr.
An der Gartenpfote drehte sich Navideh zu ihm um. «Sie flieht vor ihren Brüdern, dem Vater und vor Klaus Rodewaldt. Sie braucht dringend Unterstützung. Eine Institution oder eine Person, der sie vertraut, die Einfluss hat, den Mut und vor allem die Möglichkeiten besitzt, sie zu schützen.»
«Sie hätte sofort zum nächsten Revier fahren oder uns anrufen können», erwiderte Steenhoff.
«Ja, aber das hat sie nicht gemacht», sagte Navideh gepresst. «Was bleibt, ist das Krankenhaus, wo ihre geliebte Mutter liegt, und Tatjana, der sie ebenfalls vertraut.»
Sie standen gerade vor dem Krankenhausfahrstuhl, als Petersens Handy klingelte. Sie machte Steenhoff ein Zeichen, nicht in den Fahrstuhl zu steigen, und zog ihn, während sie weiter mit dem Anrufer sprach, in Richtung Eingangstür.
Er hörte, wie sie eindringlich sagte: «Bleib dran, Jorges. Bleib bloß dran. Verliere sie nicht aus den Augen!»
Dann spurtete Navideh, dicht gefolgt von Steenhoff, zurück zum Auto.
23
Als sie den mit seiner Spitze im Nebel liegenden Fernsehturm in Walle passierten, platzte es aus Navideh heraus: «Ich fasse es nicht, warum fährt sie nach alldem zurück nach Hause?»
Steenhoff antwortete nicht. Er fuhr mit hoher Geschwindigkeit die Hauptstraße entlang. Das Blaulicht auf dem Dach scheuchte andere Autofahrer beiseite. Angestrengt suchten seine Augen die Rad- und Seitenwege nach Saliha ab. Bei einer Radfahrerin mit halblangen schwarzen Haaren bremste Steenhoff so stark ab, dass die junge Frau vor Schreck den Lenker zur Seite riss und einen Sturz nur in letzter Sekunde verhindern konnte.
Entschuldigend machte Navideh ihr ein Handzeichen.
Mit quietschenden Reifen bog Steenhoff kurz daraufin die Straße der
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