Ehrenhüter
zusammen.
Steenhoff hatte seinen rechten Arm um die Lehne ihres Beifahrersitzes gelegt und berührte dabei ihre langen schwarzen Haare. Sie entspannte sich wieder, als sie sah, dass er sich nur nach hinten umgedreht hatte, um den Wagen in der engen Straße rückwärts auf eine gepflasterte Auffahrt zu manövrieren und einen Müllwagen vorbeizulassen. Kaum stand das Fahrzeug, setzte sich ihr Kollege wieder gerade in seinem Sitz auf. Er schien die Berührung nicht bemerkt zu haben. Zumindest schenkte er ihr keine Beachtung. Steenhoff hatte sie stets wie eine normale Kollegin behandelt. Er hatte für ihr Äußeres keine Augen. Navideh vermutete, dass er trotz seiner langjährigen Ehe noch immer in seine Frau Ira verliebt war. Eine lebendige, starke Frau, die stets für Überraschungen gut war. Vielleicht, dachte sie, bin ich auch einfach nicht sein Typ. Letztlich war es ihr aber gleichgültig. Steenhoffs Desinteresse an ihr als Frau erleichterte ihre Zusammenarbeit im Alltag enorm. Nur deshalb hatte sie es gewagt, Steenhoff im Laufe der Zeit, in der sie das kleine Büro unterm Dach teilten, manchmal etwas aus ihrem Privatlebenzu erzählen. So gehörte Steenhoff bis vor kurzem auch zu den wenigen im Präsidium, die wussten, dass sie sich von ihrer Freundin getrennt hatte. Er hatte ehrlich bestürzt gewirkt, als sie ihm von ihrer Entscheidung erzählte. An seinem Verhalten ihr gegenüber hatte sich seitdem aber nichts geändert.
Steenhoff bog in den Kreisverkehr am Stern ein. Kurz darauf passierten sie den Hollersee und das Park Hotel. Er fuhr noch ein Stück durch Findorff mit seinen gepflegten kleinen Reihenhäusern und bog dann in die Münchner Straße ab. Hinter der Bahnlinie hielt er sich rechts, dann ging es immer geradeaus. Die Menschen auf der Straße sahen hier anders aus. Junge Frauen in langen Mänteln und mit Kopftuch schoben Buggys vor sich her. Viele wurden von zwei, drei kleinen Kindern begleitet.
«Hat Roman Gröpelingen oder Walle gesagt?», erkundigte sich Steenhoff plötzlich.
«Er wusste es selbst nicht so genau.»
Steenhoff beugte sich vor und öffnete das Handschuhfach vor Navideh. «Schau mal im Stadtplan nach. Ich glaube, die Straße, die er uns genannt hat, liegt noch in Walle.»
Navideh fand die Schifftstraße sofort. «Du hast recht. Das ist gar nicht Gröpelingen. Wieso weiß er nicht, wo seine Freundin wohnt?»
«Er hat sie nie besucht», stellte Steenhoff trocken fest. «Vermutlich hält er sich auch nie in diesem Stadtteil auf.»
«Und woher kennst du diese kleine Straße?»
«Ich musste hier vor Jahren mal zu einem Tötungsdelikt raus», sagte Steenhoff. «Ein ziemliches Drama. Eine junge Frau war von ihrem eifersüchtigen Ehemann zu Tode geprügelt worden. Ihr ältester Sohn, ich glaube, er war vier oder fünf Jahre alt, hatte die Tat miterleben müssen.»
«Auch Türken?»
«Nein, beide Deutsche.» Steenhoff verzog das Gesicht. «Wie sich später herausstellte, hatte die Frau überhaupt keinen Geliebten. Alles nur krankhafte Einbildung. Das hat sogar dieser Idiot einsehen müssen. Wenig später hat sich der Typ im Gefängnis aufgehängt.»
«Manchmal hasse ich unseren Job», murmelte Navideh lakonisch und sah schweigend aus dem Fenster.
Steenhoff erwiderte nichts. Doch plötzlich machte er ein Zeichen. «Da ist die Schifftstraße. Ich bin gespannt, wie die Eltern uns erklären, warum sie das Verschwinden ihrer Tochter nicht gemeldet haben.»
Obwohl es noch keine Bestätigung für ihren Verdacht gab, war Navideh Petersen sicher, dass es sich bei der Toten um Nilgün Cetin handelte.
Steenhoff stellte das Fahrzeug direkt vor dem Mehrfamilienhaus ab und stieg langsam aus. Navideh spürte seinen Widerstand, in eine dieser Wohnungen zu gehen und die Welt einer Familie mit ein paar Worten zu zerstören. Aber vielleicht ahnten Nilgüns Eltern längst, dass etwas Schreckliches passiert war. Oder sie wussten, dass Nilgün nicht mehr am Leben war, weil sie es selbst so beschlossen hatten.
Vor dem Haus spielten drei Kinder auf viel zu großen Fahrrädern Fangen. Petersen schätzte sie auf neun, höchstens zehn Jahre. Als die Kinder die Lust am Spiel verloren, ließen sie die alten Räder einfach zu Boden fallen. Neugierig musterten sie die beiden Besucher.
Navideh holte tief Luft, dann drückte sie auf den Klingelknopf an der Haustür. Sie wartete, dass es summte, aber nichts passierte.
Steenhoff musterte die Glastür. Im unteren Teil hatte die Scheibe einen großen Riss. Mit der
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